Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegtenMord auf Checkmate-Castle, die Lösungvon Wolfgang Gerstner, 1992 |
Zwei Stunden später kehrte King mit dem Schachbrett aus dem Arbeitszimmer zurück und stellte es auf seinen angestammten Platz. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er sich seiner Sache sehr sicher war, und so war es nicht verwunderlich, daß die Anwesenden mit gespannten Augen seiner Worte harrten. Nach einer kurzen Kunstpause begann der Chief Inspector:"Nun, Ladies und Gentlemen, ich denke, die Sache liegt deutlich auf der Hand." Erneut ließ er eine Pause folgen. "An und für sich wäre dieser Mord perfekt gewesen - wenn nur das Schachbrett wieder aufgebaut worden wäre."
"Wie bitte?" fragte Marian in die spannungsgeladene Atmosphäre hinein "Sie wollen uns erzählen, daß diese Endspielstellung über den Mörder unseres Vaters Aufschluß gibt?"
"Allerdings," bekräftigte King "und Sie alle werden als wesentlich bessere Schachspieler das noch viel schneller einsehen als ich, der ich an dieser Position fast verzweifelt bin."
"Wer war es denn?" Georges Stimme war ziemlich tonlos.
"Alles der Reihe nach" ließ King die Katze noch nicht aus dem Sack "Zunächst ist es wichtig, den genauen Ablauf der Tat zu rekonstruieren." Er wandte sich Cathy zu. "Sie brachten Sir Thomas heute früher als sonst üblich seinen Tee."
Cathy nickte kurz, wobei sich ihre Kehle zuschnürte. "Aber ich war es wirklich nicht!" beteuerte sie plötzlich.
Der Chief Inspector winkte beruhigend ab. "Ich weiß, ich weiß. Schließlich wies ja schon Sir Thomas während des Telefongesprächs darauf hin, daß einer seiner Erben der Übeltäter ist. Nur führte Ihr frühes Auftauchen dazu, daß der Täter bei der Ausführung des Verbrechens gestört wurde." Er legte wiederum eine kurze Pause ein und trat in die Mitte des Raumes, wobei er im Licht der flackernden Kerzen ganz das Aussehen eines unheilvollen Boten besaß. "Der Mörder nutzte die Tatsache aus, daß alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit ganz auf das Brett richteten und dem Entfernen irgendeiner Person keinerlei Beachtung schenkten, denn, wie Sie mir erzählten, ist das eben so üblich.
Ein schneller Griff zum Messer, das unbemerkte Eindringen ins Arbeitszimmer, die schnelle Tat - alles lief wie am Schnürchen. Und gerade wurde der verräterische Zettel in Brand gesteckt, als überraschend Cathy klopft und den abendlichen Tee servieren will. Das ist Pech für den Mörder, der das Papier schnell in den Papierkorb wirft, ohne kontrollieren zu können, ob alles Wichtige vernichtet wird. Rasch muß er wieder aus dem Raum verschwinden, wobei er keine Zeit hat, die Verbindungstür vorsichtig zu schließen, denn sobald Cathy eintritt, muß er am Schachbrett stehen."
"Dies ist alles recht plausibel." gab Albert zu.
"Und vergessen Sie nicht die Tinte!" erinnerte King mit leicht erhobenem Zeigefinger "Als ich eintrat, war sie kurz vor dem Antrocknen."
"Ja, genau!" Patricia runzelte die Stirn. "Als wir vor seinem Arbeitstisch standen, tropfte noch von der Federspitze Tinte auf das Blatt, auf dem sie lag."
"Es steht also zweifelsfrei fest," resümierte der Polizeibeamte "daß Sir Thomas nur wenige Augenblicke vor dem Eintreffen Cathys ermordet wurde."
Mit einer Handbewegung bedeutete er, daß er nunmehr die Aufmerksamkeit der anwesenden Familienmitglieder auf die unveränderte Position auf dem Brett lenken wollte. Sobald er dies erreicht hatte, meinte er:"Der Dialog vorhin über die Bewertung dieses Endspiels hat mich stutzig gemacht. Ich hatte leider sehr viel Mühe damit, aus Ihren Aussagen die richtigen schachlichen Schlußfolgerungen zu ziehen, da ich, wie gesagt, kein sonderlich guter Spieler bin - ganz im Gegensatz zu Ihnen!" Die eigenartige Betonung dieser letzten Satzes ließ die Umstehenden sichtlich nervös werden.
"Ich habe lange vergeblich versucht, diese Stellung mit Weiß zu gewinnen, denn auf b3-b4 spielt Schwarz einfach a7-a6, und einen Königszug beantwortet Schwarz ebenfalls mit einem solchen, wobei es ihm gelingt, in der - wie sagten Sie, Opiti ..."
"Opposition." verbesserte Virginia.
"Genau." King verneigte sich leicht. "In der Opposition zu bleiben. Dennoch haben Sie, die Sie viel besser spielen als ich, übereinstimmend gesagt, daß Schwarz nicht nur verloren ist, sondern daß sein letzter Zug der entscheidende Fehler war."
"So ist es" George wunderte sich immer noch über seinen Patzer "Ich weiß gar nicht mehr, wie mir solch ein Lapsus passieren konnte."
"Er hilft uns immerhin, den Täter zu entlarven," gewann King dieser Tatsache eine positive Seite ab "denn ich fragte mich, welcher letzte Zug überhaupt zum Verlust führen konnte, und nachdem ich mir mein Gehirn fast zermartert hatte, fiel mir die En-Passant-Regel ein."
"Mir auch" gestand George "Leider zu spät."
"Ich glaube nicht, daß der letzte Zug d7-d5 war," fuhr der Chief Inspector fort "denn sogar ein Patzer wie ich sieht sofort, daß danach cxd6 einfach einen Bauern und damit die Partie gewinnt. Anders liegt die Sache bei b7-b5, denn nach cxb6 axb6 darf Weiß nicht sofort b3-b4 spielen, da Schwarz danach mit Kf7-e7 Kf5-e5 Ke7-d7 Ke5-f6 Kd7-d6 leicht remis macht."
"So hatte ich mir das gedacht" hörte man wieder George.
"Doch Weiß spielt stattdessen a3-a4 Kf7-e7 Kf5-e5 Ke7-d7 b3-b4, und der a-Bauer entscheidet den Tag. Dagegen hätten, anstelle von b7-b5, sowohl a7-a6 als auch a7-a5 das Unentschieden gesichert, und das, obwohl Schwarz die Opposition verliert." Resigniert fügte er hinzu:"Sie wissen das eben dank Ihrer Erfahrung, während ich beinahe eine halbe Stunde dafür aufwenden mußte, um sicherzugehen."
"Was aber hat das mit dem Mord zu tun?" wunderte sich Marian nach wie vor.
"Oh, ich dachte, Sie hätten das nun verstanden" King konnte es sich nicht verkneifen darauf hinzuweisen, daß er einmal tiefer nachgedacht hatte "Vergegenwärtige Sie sich doch Ihr Gespräch von vorhin! Wie die beiden Spieler bestätigten, wurden die letzten Züge vor Cathys Auftauchen rasch hintereinander ausgeführt, und zwar ungefähr eine halbe Minute vor dem Entdecken der Tat." George und Virginia nickten "Dies bedeutet, daß der Täter diese letzten Züge nicht mitverfolgen konnte, da er gerade seinen finsteren Plan in die Tat umsetzte und nicht rechtzeitig wieder zurück war."
"Das sehe ich ein." In John dämmerte ein schrecklicher Verdacht.
"Dies heißt," King konnte seinen Triumph nur schwer verbergen "daß der Mörder den Schlußzug b7-b5 nicht mitbekommen hat, und woher sollte er wissen, daß dieser nicht etwa Kg7-f7, b6-b5 oder Ke8-f7 war?"
Die Erben verstanden sofort, was er meinte, und fünf Augenpaare richteten sich auf eine Person, der die ersten Schweißperlen auf die Stirn traten.
King machte mit seiner nun überflüssigen Erklärung weiter:"Fünf von Ihnen hatten den letzten Zug gesehen und schnell das entscheidende En-Passant-Schlagen registriert, nur einer beharrte darauf, daß Weiß nur Remis erreichen kann. Erst aus den verschiedenen Bemerkungen über diese Position" Nochmals zeigte er bedeutungsschwer auf das Brett "konnte er schließen, was wirklich geschehen war, lange nach den anderen, teilweise deutlich schwächeren Spielern, denn schließlich waren Sie doch einmal Hochmoorjugendmeister, nicht wahr - Albert?"