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Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegten

Mord vor dem Dinner, Teil 5

von FM Wolfgang Gerstner, September 2001

zu den Schachtexten

 

   Auf einmal war eine knisternde Spannung im Raum zu spüren, während die sechs Personen unverwandt den Chief Inspector anblickten. Ein paar Sekunden lang tat sich nichts, die Zeit schien still zu stehen. Als Reginald jedoch begann, die edlen Figuren sorgfältig vom nicht weniger edlen Brett zu räumen, standen auch Virginia, Margaret und Peter auf und gruppierten sich um den Tisch herum.

Nach einigen kurzen Diskussionen aller Beteiligten hatte sich eine Stellung auf dem Brett herauskristallisiert, mit der man zufrieden war. Reginald schaute wieder zu King hoch und sagte: "So stand die Partie um 18 Uhr."

King beugte sich etwas näher über das Brett und begann die Positionen der einzelnen Figuren mit Obst und Gemüse zu vergleichen. Nach einigen Minuten angestrengten Nachdenkens, in denen man nichts außer dem unterdrückten Ausatmen der Anwesenden vernehmen konnte, hatte sich in seinem Kopf ein Bild geformt. Er erkannte, daß es sich um diese Stellung vor dem 21. Zug von Cathy handeln mußte, und er konnte rekonstruieren, wie er zu der Stellung gelangen würde, die ihm Cathy gezeigt hatte. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, er fühlte sich doch nicht so dumm wie noch einige Minuten zuvor.

"Haben Sie etwas entdeckt?" durchbrach Margaret die Stille, als sie Kings Reaktion bemerkte.

"Eine interessante Position", kommentierte King gewichtig, "Schwarz hat durch ein positionelles Opfer die Initiative an sich gerissen!"

"Genau!" In Virginias Stimme schwang Überraschung und Achtung mit. "Vater liebte scharfe Gefechte."

"Mit offenem Visier!" ergänzte Major Rook pathetisch. "Keine Hinhaltetaktik, keine Grabenkämpfe, kein feiges Verschanzen! Wie damals, als wir Seite an Seite im indischen Dschungel ..."

"Fehlt da nicht ein Schildchen?" fragte King unvermittelt.

"Sind alle da", meinte Harrison nach einem kurzen Blick in die Figurenkiste. "Alle vier."

"Nein", widersprach King, "ich meine neben dem Brett."

"Ist das eine von euren Sonderregeln, von denen mir Virginia erzählt hat?" Peter klang leicht amüsiert.

"Allerdings", bestätigte Harrison. "Damit wird Schach und Gardez angesagt. Vom Rest der Regeln wirst Du jetzt verschont bleiben."

"Ha!" warf Major Rook entrüstet ein. "Kaum ist Sir Donald entschlafen, schon wird an den ehernen und ehrenhaften Traditionen gerüttelt!"

"Nun ja", ließ sich Margaret vernehmen, "nach Schachspielen ist mir jetzt auch nicht zumute. Bringt uns das denn jetzt weiter?" Wobei die mit ihrem Zeigefinger in Richtung des Elfenbeinbrettes wies.

"Eigentlich nicht", mußte King zugeben. "Ich hatte gehofft, daß die Partie schon in einem späteren Stadium angelangt war, als Sie zum letzten Mal vorbeikamen."

"Es ist nicht der 22. Zug?" vermutete Harrison.

"Nein", erwiderte der Chief Inspector sichtlich enttäuscht, "es sind erst 20 Züge absolviert. Welche Stellung war denn auf dem Brett, als Sie wieder herunterkamen?"

"Die Partie war beendet", antwortete Harrison, "die Figuren standen wieder auf ihren Ausgangsfeldern."

"Dann kann ich mit Cathys Aussage leider auch nichts anfangen."

"Wie bedauerlich!" rief Margaret nicht weniger enttäuscht. "Ich dachte schon, Sie könnten das Rätsel heute noch lösen!"

"Ohne Sie kränken zu wollen, Miss Queen", stellte Major Rook emotionslos fest, "aber Sie sind nicht weniger verdächtig als jeder andere hier in diesem Haus, auch wenn Sie ein deutliches Interesse an der Aufklärung dieses Verbrechens zeigen." Margaret blieb der Mund offen stehen. "Wir wissen hier sehr wohl, daß Sie ein ausgezeichnetes Motiv für die Tat hatten!"

"Aber, Major", entfuhr es Virginia, "wie können Sie so etwas sagen?"

"Was meinen Sie damit, Miss Knight?" Major Rook wirkte leicht irritiert. "Es liegt auf der Hand, daß einer von uns, Cathy oder John den Mord verübt hat. Nachdem der Tathergang geklärt ist und der Täter offenbar nicht direkt ausfindig gemacht werden kann, durchleuchtet die Polizei normalerweise die vorhandenen Motive, nicht wahr, Chief Inspector?"

"Das entspricht durchaus unserer Vorgehensweise, Major", bestätigte King. "John erwähnte schon, daß ...", er durchblätterte pro forma noch einmal seine Aufzeichnungen, während es wieder still im Raum wurde, "daß jeder der acht sich im Haus befindenden Personen einen Grund hatte, Sir Donald zu ermorden."

Während Virginia, Margaret, Harrison und Peter den Chief Inspector anstarrten, zeigte sich in Major Rooks Augen ein triumphierender Blick, während Reginalds Mundwinkel zuckten.

"Unser lieber, guter John!" grinste er dann. "Pflichtbewußt bis ins letzte Detail. Und er hat sich selbst nicht ausgenommen?"

"Nein, das hat er nicht", King wandte sich ganz Reginald zu, "er fürchtete um seinen Arbeitsplatz und seine Pension. Wäre er unehrenhaft entlassen worden, und das trifft auch auf Cathy zu, wäre es ihm schwer gefallen, eine neue Anstellung zu finden."

"Zurecht!" bekräftigte Major Rook. "Er wußte, worauf er sich eingelassen hatte, als er hier seine Stelle antrat. Sir Donald hat mir einmal seinen Arbeitsvertrag gezeigt, da steht der entsprechende Passus an erster Stelle!"

"Ob der so gültig ist?" warf Margaret ein.

"Wenn er unterschrieben ist", stellte Peter achselzuckend fest, "läßt sich daran nicht viel rütteln. Wenn Schachspielen als übliche Tätigkeit betrachtet wird ... solche ungewöhnlichen Passagen finden sich in manchen Arbeitsverträgen."

"Da wir nun Johns und Cathys Motive geklärt haben", kam King wieder auf das eigentliche Thema zurück, "hielte ich es für angemessen, wenn Sie mir die Ihrigen", er machte eine Kunstpause ließ dabei einmal seinen Blick über alle Anwesenden schweifen, "nennen würden."

Es herrschte zunächst ein betretenes Schweigen.

"Vielleicht fangen Sie an, Major?" packte ihn King bei der Ehre.

Erneut strafften sich die Schultern des Offiziers, und sein herausfordernder Blick traf den des Chief Inspectors. "Ich habe nichts zu verbergen, Chief Inspector!" Seine Augen funkelten. "In der Tat hat Sir Donald Schande über meine Familie gebracht!"

"Inwiefern?"

"Meine Tochter Elaine und Master Reginald hatten beschlossen, den Bund der Ehe einzugehen", antwortete Major Rook, zögerte dann jedoch etwas.

"Und Sir Donald war damit nicht einverstanden?" vermutete King.

"Elaine hat ihr Bestes getan", schaltete sich Virginia ruhig ein, "aber trotz einer Vielzahl von Privatstunden bei namhaften Meisterspielern konnte sie ihre Spielstärke nicht entscheidend verbessern." Kings Augen wurden größer, aber immerhin hatte er es sich schon abgewöhnt, den Mund aufzuklappen. "Sie ist eine sehr kreative Person, die sich in dieser abstrakten Materie nie zurecht gefunden hat."

"Nach der Ablehnung durch Sir Donald", übernahm wieder Major Rook, "war sie zutiefst verletzt und unglücklich. Sie ist bis heute nicht darüber hinweggekommen, so sehr hat ihr dies zugesetzt."

"Und trotzdem waren Sie häufiger Sir Donalds Gast?" wunderte sich King.

"Er hatte zwar einen sehr eigenen Ehrbegriff", erläuterte der Major, "aber einen sehr ausgeprägten." Während einer kurzen Pause atmete er tief ein. "Im übrigen habe ich ihm bei jedem meiner Besuche schriftlich die Aufforderung zum Pistolenduell überreicht." Jetzt klappte Kings Mund doch auf. "Er hat leider jedesmal abgelehnt. Er sagte, er müsse zunächst sein Schachbuch beenden, anschließend stehe er mir gerne zur Verfügung."

King wußte nicht, was er sagen sollte. Er schaute auf sein Notizbuch, das er wieder einmal versehentlich zugeklappt hatte, öffnete dieses sorgfältig und machte seine Eintragungen.

"Wir drei", hörte er Reginald sagen, blickte auf und registrierte, daß der Sprecher auf Harrison und Virginia deutete, "haben alle den gleichen Grund gehabt, Sir Donald ins Jenseits zu befördern."

"Tatsächlich?" King wurde wieder neugierig. "Das hört sich ja nach einer Erbschaft an."

"So ist es, Mr. King", sagte Harrison, "er hatte vor, uns alle zu enterben."

"Ach was!" fuhr es King heraus.

"Sie haben sicherlich genug von Vater gehört", ließ sich Harrison nicht beirren, "um zu verstehen, daß die Notwendigkeit schachlichen Erfolgs auch für seine Familie Grundvoraussetzung war." King nickte resigniert. "Vor drei Wochen sind wir mit dem örtlichen Schachverein aus der dritten in die vierte Klasse abgestiegen."

"Unser Wagen hatte einen Defekt", schilderte Virginia den betreffenden Tag, "und wir standen am Sonntagmorgen auf der Straße nach Plaskett. Bis wir schließlich am Spielort eingetroffen waren, hatten wir drei schon die Zeit überschritten und alle verloren. Diesen Rückstand konnte unser Team natürlich nicht mehr wett machen, und so nahm das Drama seinen Lauf."

"Und Sir Donald hat daraufhin das Testament geändert?" konnte es King nicht fassen.

"Noch nicht", meldete sich Peter zu Wort, "er ließ mich an diesem Wochenende kommen, um ein neues Testament aufzusetzen."

"Hatte er schon eines verfaßt", forschte King, "und wollte es Ihnen zur Durchsicht zeigen, oder benötigte er dazu Sie wegen der juristischen Floskeln?"

"Das kann ich Ihnen nicht sagen, Chief Inspector", bedauerte der Anwalt, "alles, was ich weiß, ist, daß wir es morgen beurkunden sollten."

King strich sich mit der linken Hand über das Kinn und machte anschließend weitere Eintragungen.

"Und weshalb hatten Sie ein Motiv?" setzte King dann direkt bei Peter an.

"Nun", räusperte sich Peter, "es sollte gleichzeitig meine letzte Amtshandlung sein. Er hat mich zum Ende des Monats entlassen. Er hatte rechtlichen Widerspruch gegen die Wertung des verlorenen Abstiegsspiels einlegen lassen, aber natürlich haben wir vor dem Turniergericht verloren." Diesmal hatte King sich besser im Griff. "Sein Antrag wurde sofort abgelehnt."

"Wobei Sir Donald betonte", fuhr Reginald fort, "daß ihm ein Beweis vorliegt, daß es sich bei dieser Ablehnung um eine Absprache zwischen den beiden Rechtsvertretern handelt. Dies hätte zum Ausschluß aus der Anwaltskammer geführt."

"Wissen Sie, um was für eine Art Beweis es sich handelt?" fragte King.

"Nein", schüttelte Reginald den Kopf, "das hat er nicht gesagt."

"Wobei dieser Fall zu eindeutig lag", fügte Peter hinzu, "als daß eine Absprache für die Gegenseite notwendig gewesen wäre."

"Im Zweifelsfall", schaltete sich Margaret plötzlich ein, "wäre es so wie immer gelaufen: Seine unsinnigen Anschuldigungen eskalieren bis vor das Oberste Britische Turniergericht, sorgen für eine Menge Wirbel und enden mit einer Niederlage. Etwa alle sechs Monate führte er solche Possenspiele auf und klagte gegen die Verletzung seiner Ehrenrechte", King konnte nicht verhindern, daß er kurz resignierend den Kopf schüttelte, "ohne Aussicht auf Erfolg. Ich glaube, er hat nicht einen Rechtsstreit gewonnen."

"Und weshalb hatten Sie etwas gegen Sir Donald, Miss Queen?" Nach all dem, was er bislang gehört hatte, schien es King eher eine rhetorische Frage zu sein.

"Er ist ... war der Herausgeber der Schachzeitung ‚Essex Chess Review', und ich war bis vor einem halben Jahr bei ihm beschäftigt", erklärte Margaret. "Wir verbrachten manchen interessanten Abend hier beim Schachspiel, und ich dachte, er würde meine Arbeit wirklich schätzen."

"Er tat es nicht?"

"Als unsere Konkurrenz ‚Essex Chess Journal' uns in der Gunst des Schachpublikums überflügelte", schwang einige Bitterkeit in Margarets Worten, "wurde ich postwendend gefeuert."

"Sir Donald hielt das ‚Journal' für ein unseriöses Revolverblatt", Major Rooks Augen blitzten kampfeslustig, "und das völlig zurecht! Wenig Gehalt, viele Bilder und seichte Geschichten. Kaum Analysen. Eine Schande für die Schachpresse!"

"Er ließ mich sogar öffentlich diffamieren", übernahm Margaret wieder das Wort, "so daß ich bislang keine Anstellung finden konnte und mich als freie Schachjournalistin irgendwie durchschlagen muß." Ihr Gesicht nahm einen zufriedeneren Ausdruck an. "Immerhin war er vertraglich daran gebunden, daß mir die Erstrechte an der Rezension seines Buches zustanden. So mußte er ertragen, daß ich hin und wieder hier vorbeischaute, aber natürlich hat er seither keine Partie mehr mit mir gespielt."

Margaret verstummte, und es trat Stille ein. Der Chief Inspector ging noch einmal seine Notizen durch, während ihm die übrigen Anwesenden mit mehr oder minder großem Interesse zuschauten.

Acht Verdächtige und acht Motive. Dazu einige Details und Aussagen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpaßten. Eine Schachpartie, die King wieder und wieder zum Nachdenken brachte. Die kritische Stellung auf dem Küchentisch.

Und plötzlich begriff der Chief Inspector, was ihn die ganze Zeit schon gestört hatte, ohne daß er es greifen konnte. Er schlug sich mit der flachen Hand so laut an die Stirn, daß die anderen zusammenfuhren.

"Entschuldigen Sie bitte, meine Damen und Herren", beeilte sich King zu sagen, "aber da ist noch etwas, das ich genauer untersuchen muß."

"Und das wäre?" fragte Reginald verwundert.

"Darf ich mir einmal kurz das Schachbrett ausleihen?" kam die Gegenfrage.

"Na ... natürlich." Reginald sah seinen Bruder verwirrt an. "Wozu brauchen Sie es denn?"

"Das weiß ich noch nicht ganz genau", gestand King, während er sein Notizbuch verstaute, "aber ich möchte zumindest noch eine Aussage überprüfen."

"Damit?" Virginias Sanftmut war völligem Unverständnis gewichen.

"Ja, ja", antwortete King leicht geistesabwesend, "Major, würden Sie mir bitte helfen, das Brett in die Bibliothek zu tragen?"

"Gewiß, Chief Inspector." Selbst Major Rook wirkte verunsichert, als er das schwere Brett hochhob und mitsamt den Figuren zur Bibliothek trug. King ging ihm voraus, öffnete die Tür zum Gang, nahm drei Schritte, öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ den Offizier eintreten. Nachdem dieser das Brett vorsichtig auf dem Schreibtisch plaziert hatte, verließ er die Bibliothek wieder.

King holte sein Notizbuch hervor und begann auf dem Brett zu hantieren. Er benötigte beinahe zwei Stunden, ehe er sich seiner Sache sicher war und seine Anmerkungen eingetragen hatte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte seine Vermutung, daß es schon sehr früh am Morgen war, dennoch wirkte der Chief Inspector fast schon froh gelaunt.

 

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