Rochade Express, Nr. 60, Seite 8ff, "Exzellentes Training"
Das Training hatte sich an einem Mittwoch Anfang August sehr spontan ergeben. Ich (Hartmut Metz) telefonierte mit meinem alten Berliner Schachfreund Harald Fietz, der zu diesem Zeitpunkt in Gaggenau bei seinen Eltern weilte. Von Harald wusste ich bereits, dass bei seiner Schwester Astrid gerade die schottischen Spitzenspieler Paul Motwani, Großmeister und amtierender Champion seines Verbandes, und Jonathan Grant zu Gast waren. "Habt Ihr eventuell Interesse an einem Training?" fragte mich Harald plötzlich, und ich zögerte keine Sekunde, dies zu bejahen. Harald erkundigte sich daraufhin gleich bei Paul, ob dieser Lust dazu hätte. Er hatte.
Fein! Zwar konnte ich auf Grund des kurzfristig angesetzten Termins lediglich unsere Mitglieder noch über das "Badische Tagblatt" informieren, aber dennoch füllte sich unser Spielsaal ziemlich. Nur Jochen Klumpp, der erst gegen 21 Uhr eintraf, erkundigte sich etwas vorwurfsvoll, warum er nicht verständigt worden sei. "Musst eben eine gescheite Zeitung abonnieren", lautet in solchen Fallen meine Lieblingsausrede. Ganz wollte sich Jochen damit aber nicht zufrieden geben.
Warum? Er hatte etwa die Hälfte eines vorzüglichen Trainings verpasst. Paul erläuterte drei seiner lehrreichen Partien, die im Anschluss an diese Ausführungen nochmals vom "Rochade Express" publiziert werden. Denn Paul scheute keine Mühe, die Analysen nochmals zu Papier zu bringen, und Harald Fietz übersetzte sie dankenswerterweise. Jedenfalls: Das Echo auf diesen Abend reichte von: "Phantastisch" über "so etwas sollten wir immer haben" bis hin zu der Aufforderung an unseren Präsidenten Heribert Urban, dem schottischen Lehrer an seiner Realschule "einen Job zu beschaffen". Die Lehrstunden hielt Paul zwar in Englisch, waren aber nach Ansicht der meisten ziemlich gut verständlich. Verständigungsschwierigkeiten gab es so gut wie keine. Wir waren alle begeistert, und Paul gefiel die "familiäre Atmosphäre" in unserem Klub. Besonders Alexander Hatz' Künste hatten es ihm angetan. Er lobte ihn auf Grund seiner scharfsinnigen Analysen besonders und erkundigte sich nachher noch bei mir über ihn. Bei Alex habe er die "Konzentration" auf das Geschehen förmlich gespürt, und es sei ihm besonders aufgefallen, meinte der hauptberufliche Lehrer nachher. Uns blieb nach diesem gelungenen Schachschmaus nur, Harald, Jonathan und Paul zum "Italiener" einzuladen. Noch einmal schwarz auf weiß die Analysen von Paul Motwani:
Jeder Schachspieler kennt die Situation, dass ihn in einer bestimmten Partie - etwa einem wichtigen Mannschaftskampf oder der vorentscheidenden Begegnung in einem Turnier - nur der volle Punkt interessiert. Nicht selten sind solche Begegnungen dann durch einen Spielverlauf gekennzeichnet, der als "Angriffsschach" umschrieben werden kann.
Ich möchte hier drei Partien vorstellen, bei denen ich in den vergangenen Monaten mit eben dieser Ausgangsposition konfrontiert war. Die Wahl von halboffenen Eröffnungssystemen war in dieser Lage nicht überraschend, denn für gewöhnlich können hier beide Seiten mittels einer bestimmten Zugfolge versuchen, den Gang der Ereignisse dem individuell bevorzugten Spielstil anzupassen.
Ich werde zu erläutern versuchen, wie durch die Wahl, solcher Eröffnungsvarianten typische Angriffstellungen erreicht werden beziehungsweise, welche Möglichkeiten des Gegners man in Betracht ziehen muss, damit nicht die eigenen Pläne durchkreuzt werden. Anhand der Skandinavischen Verteidigung und der Paulsen Variante in der Sizilianische Partie sollen ebenfalls einige aktuelle Entwicklungen in diesen beiden Eröffnungen aufgezeigt werden.
Das erste Beispiel stammt aus der letzten schottischen Meisterschaft, die diesen Juli in St. Andrews stattfand. Es handelt sich um eine besondere Meisterschaft, da der nationale Kongress zum hundertsten Male abgehalten wurde und alle Spitzenspieler Schottlands teilnahmen. Der Austragungsmodus war neun Runden Schweizer System, und diese Partie gegen Douglas Bryson, einen bekannten Fernschach-GM, der bei dieser Meisterschaft seine letzte IM-Norm erfüllte, wurde in der zweiten Runde gespielt.
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Motwani - Bryson St. Andrews 1993
1.e4
d5
2.exd5
Sf6
An dieser Stelle muss der Weißspieler mit einigen interessanten Ideen aus der anderen Hauptvariante mit sofortigen Wiedernehmen auf d5 durch die Dame vertraut sein. [ Nach 2...Dxd5
3.Sc3
Da5
4.Sf3
Sf6
5.Lc4
Lf5
hat er die Wahl zwischen einem riskanten Gambit mit ( Angemerkt sei an dieser Stelle noch, dass statt 5..Lf5 die Zugfolge 5...c6
6.De2!?
Lg4?
7.Lxf7+
Kxf7
8.Se5+
zu einem Angriffsmotiv führt, das in Abspielen der Skandinavischen Partie häufig auftaucht.) 6.b4
( oder dem Zug 6.De2
, der die Entwicklung fortsetzt.; In der Gambitfortsetzung erreichte ich zwar 1989 mit Weiß gegen W. Burnett beim Edinburgh Kongress nach 6.b4
Dxb4
7.Se5
e6
8.Tb1
Dd6
9.d4
Lxc2
10.Dxc2
Dxd4
11.f4
eine glatte Gewinnstellung, da der Entwicklungsvorsprung das Tauschgeschäft drei Bauern gegen eine Leichtfigur nicht kompensiert, doch möchte ich in dieser Variante den Zug 9..Sc6! vorschlagen. Weiß muss sich um das Gegenspiel auf dem Feld d4 kümmern, und ein Schlagen auf c6 nach 10.Sc6 oder l0.Lb5 kommt Schwarz entgegen, da er nach Wiedernehmen mit dem b-Bauern auf c6 die wichtigen Felder b5 und d5 kontrolliert und den Gambit-Bauern verteidigt. Es bleibt hier also genügend Anreiz, die Lebensfähigkeit der Variante zu erproben. Schwarz ist im übrigen nicht verpflichtet, das Gambit anzunehmen, wie die Partie Kharlov - Westerinen, Gausdal 1992, in der mit 6..Db6 fortgesetzt wurde, zeigt. Die Partie ist als Studienbeispiel im Anhang wiedergegeben.; Auch für die zweite Möglichkeit des Weißspielers im 6. Zug möchte ich kurz ein Beispiel aus der eigenen Praxis anführen. Nach 6.De2
c6
7.d3
e6
8.Ld2
Lb4
9.a3
Sbd7?!
10.Sd4!
droht Sb3 mit Figurengewinn. 10...Lxc3?
11.Lxc3
De5
12.Dxe5
Sxe5
13.Sxf5
gewann Weiß schnell in Motwani - Slater, Edinburgh (Simultan) 1992. 13...Sg6
) ] Als kurzes Resümee soll darauf hingewiesen werden, dass Weiß in beiden Abspielen den Aufzug des Bauern nach d4 zugunsten einer aktiven Figurenentwicklung zurückhält. Weiß kann somit die Hauptvarianten umgehen und den Großteil einer Vorbereitung des Skandinavisch-Experten vermeiden. Obwohl es sich dabei um bislang ziemlich unerforschtes Terrain handelt, scheint Weiß - wie in den gezeigten Beispielen deutlich wurde - einige vielversprechene Ideen in petto zu haben. Ohne Zweifel sind dies wichtige Aspekte in entscheidenen Partien, die man auf Gewinn anlegen will.
3.Sf3
Sxd5
4.d4
Lg4
5.c4
[ In einer früheren Partie gegen Bryson beim Glasgow Congress 1990 spielte ich 5.h3
Lh5
6.c4
Sb6
7.c5
S6d7
8.Db3
Dc8?!
( Doch ging ich einerseits davon aus, dass Douglas die Variante sicher erneut gewählt hatte, weil er etwas vorbereitet hatte, andererseits erwies sich die Variante in der Partie Watson - Adams, London 1990, nach 8...b6
9.Dd5
Lxf3
10.Dxf3
c6
als durchaus spielbar für Schwarz. Auch dieses Beispiel ist als Ergänzungspartie beigefügt.) 9.g4
Lg6
10.Sc3
und stand überlegen. So scheitert zum Beispiel 10...Sc6
an 11.d5!
Sxc5
12.Dc4
]
5...Sb6
6.c5
S6d7
[ Ein Fehler ist hier 6...Sd5?
wegen 7.Db3
b6
8.Se5
mit Angriff auf den Läufer g4 und der Drohung 9.Lb5+.]
7.Lc4
e6
8.Sc3
Le7
9.h3
Lh5
10.Le3
0-0?!
Zu erwägen war an dieser Stelle 10..Sc6!?.
11.g4!
Lg6
12.h4
h5
Erzwungen, da Weiß ansonsten leichtes Spiel hätte. [ 12...h6
13.h5
Lh7
14.Tg1
Mit der Idee g5.]
13.Sg5
Sf6
[ Chancenlos ist 13...hxg4
14.Dxg4
Sf6
15.Dg2
mit der Absicht entweder 16.Sxe6 oder 16.Dxb7 und Weiß hat entscheidenden Vorteil.]
14.gxh5
Lxh5
15.Le2!
Eine überraschende, aber notwendige Entscheidung, den gut postierten Läufer zu tauschen, denn Weiß will auf den Damenflügel rochieren.
15...Lxe2
[ Ohne Perspektive ist 15...g6
16.Lxh5
Sxh5
17.Tg1
mit den tödlichen Drohungen 18.Sxe6 und 19.Dxh5.]
16.Dxe2
Sc6
17.0-0-0
Sb4
18.d5!!
Sbxd5
19.Sxd5
exd5
Die kritische Stellung, die es beim Bauernopfer in ihren Folgen nach 19..Sxd5 zu berechnen galt. So scheitert in dieser Variante ein ungestümes Vorgehen mit 20.Dh5, da nach Sf6 die Fesselung der schwarzen Dame aufgehoben wird und die Stellung zu verteidigen bleibt. Weiß steht aber eine andere Angriffsidee zur Verfügung, indem er die Schwäche der Diagonalen bl-h7 ausnutzt. Die beiden Felder c2 und d3 bieten sich für die weiße Dame an, doch wie wir gleich sehen werden, muss Weiß an dieser Stelle sehr genau spielen, um nicht von einem schwarzen Entlastungsmanöver überrascht zu werden. [ So folgt auf 19...Sxd5
20.Dc2
( Anders sieht es bei der zweiten Alternative mit 20.Dd3
aus. Hier hat Schwarz nach 19..Sxd5 20.Dd3! in den beiden Varianten, sowohl nach 20..Lxg5 als auch 20..Sf6, keine ausreichende Verteidigung. Es folgt auf 20...Lxg5
( Oder auf 20...Sf6
folgt 21.Dc2
Dc8
22.Ld4
Td8
23.Thg1
mit Gewinn wegen der Idee 24.Sxf7 Kxf7 25.Dg6. Aufgrund dieser Varianten sah Douglas sich gezwungen, mit 19..exd5 wiederzunehmen, ohne allerdings hiermit den weißen Angriffsschwung stoppen zu können.) 21.hxg5
f5
22.g6
Sxe3
23.Dxe3
Df6
24.Th8+!
nebst Matt.) 20...Lxg5
Der einzige Zug, ( da 20...g6
an 21.Sxe6!
scheitert.) 21.hxg5
f5
( 21...g6
22.De4
Gewinnt mit tödlichem Angriff auf der h-Linie.) 22.g6
Sxe3!
23.fxe3
Dg5!
24.Tdg1
Dxe3+
25.Kb1
De4
und Schwarz steht klar besser. Den Knackpunkt in dieser Variante stellt sowohl das aus schwarzer Sicht günstige Zwischenschlagen auf e3 dar, als auch die fehlende Möglichkeit der weißen Dame auf die h-Line zu schwenken.]
20.Ld4
Dd7
[ Sofort verliert 20...Te8
wegen 21.Lxf6
gxf6
( 21...Lxf6
22.Dh5
Dd7
23.Dh7+
) 22.Se6!
fxe6
23.Thg1+
Kf8
24.Dxe6
nebst Tg8 Matt.]
21.Dc2
Tfe8
Im Falle von g6 droht 22.Tdg1 die Partie entweder mit 23.Sxf7 oder 23.h5 zu entscheiden. Allerdings führt die Partiefortsetzung ebenfalls zu einem forcierten Gewinn.
22.Lxf6
Lxf6
23.Dh7+
Kf8
24.Dh8+
Ke7
25.The1+
Kd8
26.Sxf7+
[ 26.Sxf7+
Dxf7
27.Txd5+
Dxd5
28.Dxe8#
] 1-0
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Der zweite Teil des Vortrags soll der Paulsen Variante in der Sizilianischen Partie gewidmet sein. Sie eignet sich in besonderer Weise, Abspiele entsprechend den jeweiligen Anforderungen während eines Turniers zu wählen.
Die Partie gegen FM Stephan Mannion wurde in der vorentscheidenden 8. Runde der diesjährigen schottischen Meisterschaft gespielt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit 4,5 Punkten einen ganzen Punkt Rückstand auf GM Colin McNab, meinen Mannschaftskollegen aus Dundee. Ihm gelang in dieser Runde allerdings nur ein Remis nach 73 Zügen gegen Bryson. Die Ausgangslage veranlasste mich, etwas Riskantes zu wagen, so dass ich im 5. Zug auf ein relativ zweischneidiges Abspiel zurückgriff.
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Mannion - Motwani St. Andrews 1993
1.e4
c5
2.Sf3
e6
3.d4
cxd4
4.Sxd4
a6
5.Ld3
g6
[ Eine wichtige Alternative ist z.B. 5...Lc5
6.Sb3
La7
wonach Weiß sich entscheiden muss zwischen A: 7.De2
( oder B: 7.Dg4!
Adams, M. - Motwani, P., Großbritannien (Britische Mannschaftsmeisterschaft) 1993 (siehe nächste analysierte Partie).) 7...Sc6
Roy, M. - Motwani, P., Open Wien 1991 und Klip, H. - Motwani, P., Sas von Gent 1992 (siehe Partien im Anhang).]
6.f4
Für den positionellen Aufbau mit 6.c4 votiert John Nunn in seinem Buch "Beating the Sicilian 2". Eine aktuelle Partie hierzu findet sich im neuesten Informator Nr.57, gespielt zwischen Psakhis gegen Oratovskij in Tel Aviv 1993.
6...Lg7
7.Sf3
Sc6
8.0-0
d5!?
[ Schwarz sollte sich nicht auf 8...Db6+?
9.Kh1
Lxb2
10.Lxb2
Dxb2
11.Sbd2
einlassen, wonach Weiß eine starke Initiative für den Bauern erhält.]
9.exd5
[ Nach 9.e5
beabsichtigte ich, 9...Sh6
nebst f6 zu spielen.]
9...exd5
10.f5
Sge7!
Zwingt den Bauern f5 sofort zu einer Klärung.
11.fxg6
hxg6
12.Sc3
Lg4
13.De1
Dd6
14.h3
Lxf3
An dieser Stelle könnte eine Zersprengung des weißen Bauernschutzschilds erwogen werden, [ doch führt dies nach 14...Lxh3
15.gxh3
Txh3
16.Kg2
Dd7
17.Sh2
zu einer höchst unklaren Stellung.] Schwarz ist aber nicht gezwungen, die Ereignisse zu überstürzen.
15.Txf3
Sd4
16.Tf1
Se6
17.Df2
0-0-0!
[ Die taktische Wendung nach 17...Ld4
18.Le3
Lxe3
19.Dxe3
d4
erweist sich als vorteilhaft für Weiß.]
18.Le3
f5
Die Gabel 18..d4 wird erneut mit 19.Se4 gekontert.
19.Se2
d4
20.Ld2
Sd5
21.Tac1
Sc5!
Schwarz eindeutig steht besser, da der Springer nach e4 einzudringen droht. Stephan versucht deshalb einen Befreiungsschlag, unterschätzt allerdings die schwarze Replik.
22.Sxd4?!
Txh3!
23.gxh3
Lxd4
24.Dxd4
Dg3+
25.Kh1
Dxh3+
26.Kg1
Dg3+
27.Kh1
Se6!
Leitet das Manöver für den Zugang des Turms nach h8 ein.
28.Dc4+
Kb8
29.Lc3
Sxc3
30.Dxc3
Sd4
0-1
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Ich möchte zu dieser Partie erwähnen, dass der positive psychologische Effekt so groß war, dass ich in der Schlussrunde ebenfalls gewann, und letztlich zusammen mit Colin McNab die Meisterschaft gewinnen konnte.
Abschließend werde ich eine Partie zeigen, die indirekt für die Wahl der Variante in der eben analysierten Begegnung verantwortlich war. Sie wurde im Mai diesen Jahres per Telefonübermittelung in der britischen Mannschaftsmeisterschaft gespielt. Dieser Wettbewerb wurde bislang - im Gegensatz zur Bundesliga - nach einem k.o.-System mit Sechsermannschaften ausgetragen. Mein Gegner Michael Adams dürfte auch hierzulande kein Unbekannter sein.
Ich hoffe, die gezeigten Beispiele haben verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich in "seinen Eröffnungen" kontinuierlich nach Feinheiten und Neuerungen umzusehen. Gerade die letzte Partie unterstreicht, wie man mit guter Vorbereitung den Spielverlauf entscheidend zu seinen Gunsten gestalten kann. Danke für die Aufmerksamkeit und viel Spaß bei der nächsten Angriffspartie.
Ergänzungspartien zur Skandinavischen Verteidigung:
Ergänzungspartien zur Paulsen Variante in der Sizilianischen Verteidigung:
REO - Jubiläum