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Comeback in der Lenk

Jubiläum


Rochade Express, Nr. 62, Seite 24ff, "Comeback in der Lenk"
von Hartmut Metz

   Im Mai und Juni scheint die beste Zeit für mich zu sein, Schach zu spielen. Im Vorjahr wartete ich mit einer überraschenden IM-Norm in Liechtenstein auf, kurz danach zeigte ich bei der badischen Meisterschaft ganz ordentliche Künste. Heuer fuhr ich wieder mit dem Arbeiterschachverein (ASV) Gurten zu deren Bundesturnier. Im Land der Eidgenossen gibt es zwei Schachverbände: zum einen den regulären, der dem Weltverband FIDE angehört, zum anderen den Arbeiterschachverband, der sich vor vielen Jahrzehnten aus der Arbeiterbewegung heraus rekrutierte. Heute würden die Schweizer wahrscheinlich eher einen Bänkerschachverband gründen ...

   Jedenfalls bin ich beim ASV Gurten, mit dem wir vor zwei Jahren einen letztlich wegen des badischen Pokalfinales geplatzten Reiseaustausch betreiben wollten, Mitglied und fuhr so mit einigen alten Bekannten in die Lenk, wie die Schweizer sagen. Ein netter Ort im Simmental, umrahmt von Bergen und den Deutschen vielleicht nur dadurch bekannt, dass von dort die "Milka lila Kuh" stammt, wovon ein "Denkmal" im Ort zeugt. Das kümmerte mich jedoch weniger. Mehr Interesse brachte ich dem siebenrundigen Bundesturnier entgegen, das sich immer mehr zu einem meiner Lieblingswettbewerbe entwickelt. Ich erreiche dort jedes Mal akzeptable fünf Punkte aus sieben Partien und streiche noch ein kleines Zubrot ein. Ganz zu schweigen davon, dass ich diesmal auch als Jass-Frischling - Jass ist das beliebteste Kartenspiel der Eidgenossen - meinen Schweizer Vereinskameraden satte zwei Franken abnahm. Schöne Momente durfte ich - zumindest ab und an - auch im Billard verbuchen.

   Während ich bei meiner ersten Teilnahme in Disentis keine so überragenden Kontrahenten vorweisen konnte, sah es diesmal ab Runde drei ganz anders aus. Gegen IM Artur Kogan, der Anfang des Jahres in Groningen mit einem phänomenalen Ergebnis Großmeisterstärke bewies, zeigte ich in einer psychologisch interessanten Partie, dass gute Theoriekenntnisse nicht immer Vorteile gegenüber ignorantem Unwissen garantieren.











Metz - Kogan
Bundesturnier Gurten 1994

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Dc7 5.Sc3 e6 6.Le2 a6 Schon beim 6. Zug beschlichen mich leise Zweifel an der Theorie, inzwischen wähnte ich mich bereits von ihr verlassen und musste mich folglich auf meinen kleinen Kopf stützen. 7.Le3 b5 Dieser Zug machte mich schon ziemlich nervös, obwohl noch kein Grund dazu bestand. 8.Sxc6 Dxc6 9.a3?! Diese Fortsetzung spielte zwar Saizew gegen Taimonow (UdSSR 1962), aber 9.f4 gilt als "unternehmender", wie ich meinen alten Polugajewski-Büchern entnehme. Wenn ich mich recht entsinne, erzählte mir mein Gegner auch etwas von der Möglichkeit 9.Lf3. 9...Lb7 10.Ld3? Dies hätte ich eigentlich schon aus prinzipiellen Erwägungen verwerfen sollen. Den Läufer erst noch e2 ziehen, um ihn dann wenig später nach d3 zu stellen? Das kann es wahrlich nicht sein. Logischer wirkt der Zug Saizews, der l0.Dd4 den Vorzug gegeben hat. 10...Sf6 Inzwischen sah ich die gesamte Partie bereits vermurkst, weshalb ich mich zu einem Bauernopfer durchrang. 11.De2!? b4 12.axb4 Lxb4 13.f3! d5 [ 13...Lxc3+ 14.bxc3 Dxc3+ 15.Kf2 räumt Weiß Dank des Läuferpaars doch gewisse Kompensation ein.] 14.0-0 Lxc3 Schwarz muss nun seinen schwarzfeldrigen Läufer aufgeben, will er das Bäuerchen einheimsen. 15.bxc3 dxe4 15..Dxc3 eröffnet dem Anziehenden viele aktive Möglichkeiten, bildet aber dennoch eine ernste Alternative. 16.fxe4 Sxe4 17.Ld4 Die Stellung scheint mir mindestens ausgeglichen zu sein. 17...0-0 [ 17...Sxc3 bringt nichts wegen 18.Dg4 und der Druck gegen g7 nimmt überhand. ( Die zarte Versuchung 18.Lxc3 Dxc3 19.Lb5+? axb5 20.Dxb5+ Dc6 21.Txa8+ Lxa8 22.Db8+ scheitert leider wegen 22...Ke7 23.Dxh8 Dxg2# ) ] 18.Dg4 f6 Der einzige Zug, da 18..g6 für zu gravierende schwarze Felderschwächen sorgt. 19.Tae1 Sc5 20.Lc4 [ Die Idee 20.Txf6 verspricht noch nichts. 20...Txf6 21.Lxf6 Dxg2+ 22.Dxg2 Lxg2 mit schwarzem Mehrbauer. Kogan muss nun aber dieser Gefahr begegnen.] 20...Kh8 21.Lxe6 Tae8 [ Die Position ist nach 21...Sxe6 objektiv remis, weshalb ich die Punkteteilung offerierte. Mein Gegner lehnte das Angebot jedoch ab, weil ich, wie er nachher gestand, "die Eröffnung so miserabel" gespielt hatte. Remis gegen einen Patzer? Nein, danke. Ganz ohne Gift ist die weiße Stellung jedoch nicht.; So endet 21...Lc8 bereits unangenehm: 22.Txf6!! gxf6 23.Lxf6+ Txf6 24.Dg8# ] 22.Lf5 a5 23.Dh3! Deckt sowohl g2 und greift h7 an. 23...h6 24.Dg4 24.Lg6 ist sicher auch sehr stark, aber ich verließ mich darauf, dass mein Kontrahent weiterhin auf das remisträchtige Lc8 verzichtet. 24...Txe1 25.Txe1 Te8 26.Tf1?! Im Nachhinein gefällt mir 26.Tb1 besser. Ich wollte mir jedoch während der Partie Optionen wie Txf6 (nach Wegzug des Lf5) offen halten. 26...Se6? Zu aggressiv auf Gewinn gespielt. Schwarz hätte spätestens jetzt die über dem schwarzen König heraufziehenden Gewitterwolken mittels 22..Lc8 und Abtausch vertreiben müssen. Kogan war sich dieser Möglichkeit bewusst, wollte aber noch immer kein Unentschieden. 27.Ld3 Sf8 [ 27...Sxd4 28.cxd4 verspricht Weiß eine überlegene Position, da sowohl die verbundenen Freibauern zu laufen drohen und stets das Damoklesschwert Dg6 über dem Nachziehenden schwebt. Im übrigen galt es, die Drohung 28.Txf6! abzuwenden.] 28.Tb1 Lc8 29.Dh5! Ein feiner, wenn auch leicht zu entdeckender Zug, der in gegnerischer Zeitnot - beim Bundesturnier mussten in eineinhalb Stunden 36 Züge ausgeführt werden - besonders stark ist. Der Bauer a5 hängt, gleichzeitig könnte sich Tb6, so wohl der fixe Gedankengang des unter Zeitdruck geratenen Spielers, als unangenehm erweisen, da sowohl der Te8 gedeckt werden muss, als auch eventuell ein Stück willenlos auf f6 hinein schlagen könnte. 29...Td8 30.Dxa5 Se6 Mit reichlich dreistem Remisangebot, das ich natürlich ablehnte, nachdem der einzige schwarze Trumpf auf a5 beseitigt ist. 31.Df5 Sg5 32.Df2 Lb7 33.Kh1 [ Bloß nicht 33.Tb6?? Sh3+ 34.Kf1 Sxf2 35.Txc6 Lxc6 36.Kxf2 und vertaner Siegchance.] 33...Se4 34.Df3 [ 34.Df5? Sg3+ 35.hxg3 Dxg2# ] 34...Sd6 35.Dg3 Te8 36.h3 Lc8? In hochgradiger Zeitnot der endgültige Patzer in den raschen Verlust. 37.Tb6 Se4 38.Txc6?! Zu sofortiger Aufgabe hätte 38.Dg6! geführt, da Schwarz anschließend mindestens eine Figur einbüßt. Indes hatte mich ein hübscher Springerfang dermaßen ergriffen, dass ich andere Möglichkeiten als Txc6 erst gar nicht mehr bedachte. 38...Sxg3+ 39.Kh2 Sf5 Der Springer besitzt kein besseres Feld: Se4 und Se2 scheitern an Txc8 und Sh5 verliert nach Lg6. 40.Txc8 Txc8 41.Lxf5 Tc7 42.Le6 Tc6 43.Ld5 Td6 44.c4 g5 45.g4 Kg7 46.c3 h5 47.gxh5 Kh6 48.Lf3 f5 49.c5 Td8 50.c6 Tc8 51.Le5 g4 52.hxg4 fxg4 53.Ld5 Kxh5 54.Kg3 Kg5 55.c7 Kf5 56.Ld6 Th8 57.c4 Th3+ 58.Kg2 Th2+ 1-0



   Nach diesem Duell war ich an den Spitzentischen angelangt und wollte sie vorerst nicht mehr verlassen. Mit einem Remis gegen IM Videki setzte ich die großen Gedanken in die Tat um, wobei am Ende der ungarische Titelträger über das Remis sehr froh war. Nach wenig geglückter Eröffnung wickelte ich anschließend gegen GM Florin Gheorghiu in 15 Zügen in ein weiteres Unentschieden ab. Anschließend verpatzte ich gegen GM Joe Gallagher alle Chancen auf einen Medaillenplatz. Ziemlich unnötig, wie die Partie beweist.











Metz - Gallagher
Bundesturnier Gurten 1994

1.e4 c5!? hätte mich mehr herausgefordert, weil ich wie Gallagher ein überzeugter Anhänger des Königsgambits bin. Allerdings hätte ich auf Varianten aus seinem Buch "Winning with the King's Gambit" verzichtet - denn die kosteten mich im Fernschach einige Punkte, als ich das damals ziemlich neue Werk ungeprüft einsetzte! 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 Sc6 7.Dd2 e6 8.0-0-0 Ld7 9.f4 b5 10.Sxc6 Lxc6 11.Ld3 b4 12.Se2 Db6 13.Lxf6 gxf6 Der Unterschied zum üblichen Rauser-Angriff besteht darin, dass Schwarz auf Le7 nebst kleiner Rochade verzichtete und so einen Doppelbauern auf der f-Linie erhielt. Andererseits schritt der Bauernsturm am Damenflügel relativ rasch voran, und für Weiß entfällt der Standardangriff gegen die Rochadestellung seines Kontrahenten. 14.Kb1 Meist sinnvolle Prophylaxe, um a2 zu decken, aus der c-Linie zu verschwinden und den Kontrahenten diverser Möglichkeiten auf der Diagonale c1-h6 zu berauben. 14...h5 Ansonsten könnte g4, h4, g5 mit Spiel am Königsflügel folgen. Der Bauernvorstoß besitzt jedoch auch Nachteile. 15.Thf1 Gibt Weiß zwei Optionen: Zum einen kommt stets f5 in Betracht, zum anderen gestattet er in ferner Zukunft Tf3, Th3 nebst Spiel gegen den h-Bauern. 15...a5 16.De1! Plant Dh4, um f6 zu befragen, und will außerdem mit g4 den h-Bauern erobern. 16...Tg8? "Ein idiotischer Zug", befand Gallagher später und plädierte statt dessen für die Fortsetzung des Bauernsturms mit 16..a4. 17.Dh4 Weiß kümmert sich nicht um den vorerst wertlosen g-Bauern und gedenkt später eventuell die geöffnete g-Linie für seine Zwecke zu nutzen oder den h-Bauern laufen zu lassen. 17...Txg2 18.Dxh5 a4 19.Dh3 Dies hatte der Engländer übersehen. Der Turm muss seine aktive Position auf der zweiten Reihe aufgeben. 19...Tg8 20.Sc1 a3? Zu impulsiv vorgetragen. Der schwarze Angriff verläuft nun im Sande. Angezeigt ist 20..b3!? mit unklarer Position. 21.Lc4! axb2 22.Sd3 Plötzlich stehen alle weißen Figuren sehr agil und harren des Königsangriffs gegen die in zwei Lager gespaltenen und damit wesentlich weniger wirkungsvollen schwarzen Kräfte. Der Anziehende droht nun Lxe6. 22...Tg7 23.Tfe1 La4?! In aufkommender Zeitnot fällt es Gallagher bar aller Angriffschancen schwer, einen vernünftigen Plan zu fassen. 24.Sxb2 Lb5 25.Lb3 Df2!? Ein sehr trickreicher Zug, auf den ich hereinfiel. Mit genügend viel Zeit - etwa zehn gegenüber Gallaghers drei Minuten - ließ ich mich zu einem Bauerngewinn verführen, der das schwarze Angriffsspiel merklich belebt. 26.Lxe6? [ 26.f5! e5 27.Ld5 garantiert Weiß eine vollkommen überlegen Stellung, die in Zeitnot nur schwer zu halten ist.] 26...fxe6 27.Dh5+ Kd8 28.Dxb5 Da7 Da haben wir bereits den Salat. Plötzlich arbeiten die schwarzen Schwerfiguren zusammen, weil der zuvor abgeschnittene Tg7 auf den Damenflügel wechseln kann. Indes besteht aber noch lange kein Grund zur Panik. Nach 29.Dc4!, das a2 deckt und e6 angreift, ist alles im Lot. Dummerweise verabschiedete sich nun mein Verstand. 29.Kc1? Tc7 30.Td3?! Dxa2 [ Glück in der Stellung, dass das mir und Gallagher entgangene 30...Df2 noch mit 31.Te2! Dxf4+ 32.Kb1 zu parieren ist.] 31.Dxb4 Tac8 Mit noch etwa fünf Minuten auf der Uhr geschah nun das Unglaubliche: "Ich spiel' c4, mein Springer deckt, meine Dome deckt - das reicht", so mein schlichter Gedankengang. Dabei hätte jedes Kleinkind nachzählen können, dass Schwarz einmal mehr auf den kritischen Punkt drückt. 32.c4?? 32.c3! lässt die Angriffswoge abflauen. Mit höchstens 30 Sekunden für fünf Züge hätte Gallagher sich danach sputen müssen. 32...Txc4+ 33.Sxc4 Txc4+ 34.Dxc4 Dxc4+ 35.Kd2 Da2+ 36.Ke3 Dxh2 0-1



   Nach einem relativ einfachen Abschlusserfolg über Fischer schob ich mich Dank der recht ordentlichen Buchholz am Schluss wieder auf Platz acht vor - zwei Ränge vor Gallagher, der auch in der siebten Runde die Spielkunst vergangener Tage vermissen ließ. Erfreulicher Nebeneffekt des Turniers: Der DWZ-Abwärtstrend wurde gestoppt, und ich fand wieder etwas Vertrauen in meine Spielstärke.


REO - Jubiläum