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Der Schachmeister

von Hartmut Metz, Juni 1996

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   Fest entschlossen ging ich das Turnier in Wien an. Den Patzern zwischen 2200 und 2400 ELO wollte ich zeigen, wo der Hammer hängt: nämlich in Muggensturm, Bahnhofstr. 63. Natürlich gedachte ich alsbald nur noch am Spitzenbrett im Open 2 beim "Schachfestival 1000 Jahre Österreich" zu agieren und uneigennützig die 40000 Schilling einem guten Zweck, meinem Geldbeutel, zuzuführen.

   Doch ein fataler Irrtum hielt mich von diesem hehren Ansinnen ab: Ich hatte mich - ich muß es eingestehen - in der Richtung geringfügig getäuscht. Nach der 21zügigen Mattsetzung in Runde eins gegen einen Italiener (einen Italiener, sozusagen aus dem Schach-Niemandsland Italien!) wunderte ich mich schon ein bißchen, daß ich mich trotz allem von Brett 44 aus weiter an das Spitzenbrett 66 herangetastet hatte. Leutselig goutierte ich auch noch meine Fortschritte nach der - zugegebenermaßen - nicht ganz gewollten Mattsetzschlappe nach 20 Zügen (trotz der weißen Klötze).

   Der Metz ist ja nicht dumm, weshalb mich nach der dritten und vierten Niederlage (ausnahmsweise zweimal rechtzeitig aufgegeben und zudem einmal beachtliche 47 Züge gegen einen Kamsky-Sekundanten durchgehalten) ernsthafte Zweifel beschlichen, ob ich mit 0/4 und mittlerweile an Brett 64 angelangt, nicht doch fehlenden Orientierungssinn bewiesen und mich konsequent in die entgegengesetzte Richtung bewegt hatte.

   Einstweilen blieb mir nichts anderes übrig, als mich von meinem bis dahin treuen Weggefährten Peter Braun (ebenso wie ich VfB Stuttgart-Fan, allerdings nach Runde fünf doch plötzlich und unerwartet mit einem Punkt versehen) durch Zeitüberschreitung zu trennen, um mit den olympischen Ringen (fünf Nullen) die Probe aufs Exempel zu machen.

   Brett 66 bestätigte meine inzwischen aufkeimenden Befürchtungen - Schilling futsch, ELO futsch, DWZ futsch. Scheiß Wien. Wenigstens bekam ich am Gurkenbrett endlich mal keine Tischbeine zwischen meine Haxen, nachdem mich die ersteren so hartnäckig im Rathaus verfolgt hatten wie zweitere in 32 Jahren. Irgendwie saß man an Brett 66 gar nicht so schlecht - und so verteidigte ich meinen liebgewordenen Platz im Schatten des Open 2 hartnäckig, ehe mich ein kampfloser Sieg leider wieder wegspülte ...

   Nanu, wird sich der geneigte Rochade-Leser sagen, ist das nicht derselbe Mist, den dieser Idiot bereits als Einstieg bei "Leser kontra Computer" in der Rochade Europa verzapft hat? Wie kommt dieser Schund in unser ansonsten so niveauvolles Blatt (vorausgesetzt, Reinald Kloska schreibt nichts)? Leichtsinnigerweise ließ sich der vielgeschmähte Autor im Vollsuff dazu verführen. Die Schuldigen, die Werner Family (nicht zu verwechseln mit der Kelly Family, die zwar auch Musik macht, aber ein Hausboot besitzt, während die Werners in Karlsruhe auf Mehrtürme bauen), seien auch gleich verpetzt: Clemens konnte eigentlich wenig dazu, daß er in Wien 50 wurde und deshalb zu einer kleinen Feier laden mußte. Doch seine liebreizende Tochter Veronika trug ein gerüttelt Maß zu dem bevorstehenden Rochade-Abo-Schwund bei.

   Hemmungslos füllte sie den Schreinermeister, äh Meisterschreiner, äh - wo iss'n hier das "b", würde Boris Becker fragen - Meisterschreiber (gefunden!) mit etwa einem Achtunddreißigstel dessen, was ein Christian Maier in sich hineinschüttete, ab. Nach einem Glas Sekt und einem Schluck Wein lallte der Metzige, der sich gerne als dreifacher badischer Pokalsieger feiert, ein nur schwerlich vernehmbares "meinetwegen". Damit stand die Zusage, den Bericht für die Karlsruher Vereinszeitung "Greifer" zu schreiben, Pech natürlich auch für alle RE-Leser, die diesen Bericht nun ebenfalls ertragen müssen.

   Über den Rest meines Turniers im Open 2 (Teilnehmer alle zwischen 2200 und 2400 ELO) legen wir fast großmütig den Mantel des Schweigens. Nur eine Begebenheit sei noch erzählt, weil sie selbst in einem Kitschfilm unglaubwürdig wirkte. Nach einem grauenhaften Remis gegen einen gewissen Wolter (erst Gewinnstellung, dann Remis, dann verlustig, am Schluß doch Remis) traf ich auf den Österreicher Wukits, der angeblich das Turnier abgebrochen hatte. Genüßlich füllte ich deshalb nach 58 Minuten des Wartens mein Formular aus, als plötzlich ein junger Bursche heraneilte, etwas von "'tschuldigung ..." murmelte und 1.e4 aufs Brett haute. Ja, haute, nicht setzte. Zuvor hatte ich mich noch erkundigt, ob er "Wukits" hieße. Das "ja" hörte sich österreichisch an, weshalb ich guter Dinge die Partie in Angriff nahm: Caro- Kann mit gxf6 - was sollte da passieren?

   Als ich mich im elften Zug gerade mit meiner Stellung richtig anfreundete und ausheckte, wie ich dem offensichtlich unter Drogen (Alkohol? Sonstiges?) stehenden Kerl den schnellsten Garaus bereite, kam der Schiedsrichter herbeigeeilt: "Das ist nicht ihr Gegner. Der hätte ein paar Bretter weiter vorne spielen müssen!" Mich tröstete der Gedanke, daß der Idiot, der sich an das falsche Brett gesetzt hatte, dafür dort kampflos verlor. Damit nicht genug. Tags darauf spielte ich gegen einen gewissen Maly.

   Weitere Erkundigungen stellte ich sofort ein, als mir der Untergrombacher Jochen Kountz berichtete, daß jener bereits in der sechsten Runde kampflos verloren hatte. Um so größer mein Erstaunen, als ich nachmittags zufällig nach 25 Minuten an meinem Brett vorbeikam und dort - mein Kontrahent des Vortages saß! "Wie heißt du?" insistierte ich diesmal etwas genauer. "Maly", lautete die richtige Antwort, wonach die Partie losgehen konnte.

   Das Königsgambit verlief zwar ganz in meinem Sinne, aber doch recht zäh. Ach, dachte ich während der Partie, hätte ich doch wieder Schwarz gegen den Burschen gehabt. Mit Caro-Kann wäre alles kein Problem... Letztlich gewann ich auch so in Gewinnstellung auf Zeit, womit die unerfreulichen zwei Akte doch abgeschlossen schienen. Bis mich Veronika Werner darauf aufmerksam machte, daß die Turnierleitung mit mir sprechen wolle. Weil Theaterstücke für gewöhnlich drei Akte haben, meldete ich mich bei den Referees, die sich erkundigten, wie denn meine Partie ausgegangen sei.

   „Ich habe gewonnen!" verkündete ich stolz, woraufhin mich ein Schiedsrichter mit der Aussage verblüffte, daß ich mit der falschen Farbe gespielt hätte!!! In der Tat! Nachdem ich von Kountz gehört hatte, daß mein Gegner gestern nicht gekommen war, hatte ich das Paarungstableau verärgert mit Verachtung gestraft und kurzerhand gemutmaßt, diesmal mit Weiß kampflos zu gewinnen ...

   Fortan widmete ich mich schließlich nur noch den wirklich wichtigen Fragen dieses Lebens: So lüftete ich dank gnadenloser Recherche ein Geheimnis, das uns alle bereits seit vielen Jahren beschäftigt. Was verbirgt Christof Herbrechtsmeier unter seinem gewölbten Hemd (einen Pullover hatte er ja in Wien keinen mit und mußte sich nach einsetzendem Regen sogar von Clemens einen leihen)? Christian Maier, vieljähriger Freund des von Zähringen nach Karlsruhe emigrierten, hatte ja zunächst gemutmaßt, es handele sich bei der Wölbung über dem nicht vorhandenen Hosengurt (Christof drohte am vierten Tage, knallgelbe oder schockfarbene rote Hosenträger zur Vervollständigung seines Sortiments zu erwerben) um ein Handy-Depot. Manch einer tuschelte auch hinter vorgehaltener Hand von einem "Sixpack".

   Indes belehrten uns die Geschehnisse nach einem opulenten Mahl, daß Christofs Wölbung natürlicher Herkunft ist und aus lauter kleinen Mozartkugeln besteht; praktisch wie die Lottotrommel, in der Woche für Woche die 49 Kugeln purzeln - nur, daß sich der Aufsichtsbeamte nicht vor dem Einschub der Mozartkugeln von deren Ordnungsmäßigkeit überzeugt hatte. Deshalb schritten wir energisch ein und verweigerten Christof an diesem Abend an der Hotelbar den Ankauf von weiteren 2312 Mozartkugeln.

   Dermaßen geschwächt, vergeigte er in der dritten Runde eine äußerst dramatische Partie, die Clemens und mich faszinierte (den einen, weil er die vielen Facetten bestaunte, den anderen, weil er nichts verstand). Fasziniert war unser Jubilar auch von seiner Niederlage im vierten Umgang, die später sogar kommentiert Eingang in das sehr gute Tagesbulletin fand. "Die Art, wie Sie alles anfesseln, gefällt mir", schloß Clemens die Analyse mit dem Fesselkünstler etwas masochistisch angehaucht. Nun gut, Gattin Birgit bekam ja die neuen (?) Anwandlungen ihres Mannes nicht zu Gehör. Dafür Isabel und Veronika am Frühstückstisch, daß ihr Herr Papa mancherlei Ausbildungsfehler mit ihnen gemacht und nicht rechtzeitig "1.e4" beigebracht habe. Dermaßen verunsichert, avancierte Isabel zur Remiskönigin, Veronika verlor gar an diesem Tag.

   Daß "1.e4" nicht der Weisheit letzter Schluß ist, belegte ich mit einer weiteren Weiß-Niederlage. Damit bewegte ich mich wie auf dem Riesenrad im Prater, wo für mich keine Träume blühten: im Kreis, im Kreis, im Kreis - und der sieht aus wie eine Null. Eine große, fette Null. Nur die ELO-Verluste von stolzen 42,6 Punkten haben leider nichts mit Nullen zu tun. Bei Clemens hielt sich das Minus mit 15 ELO in Grenzen, die anderen drei dürften in etwa pari abgeschlossen haben. Den Werners bleibt wenigstens der Trost, am letzten Tag den „Rest der Welt" (Preisgeldabräumer Christian Maier, IM Georg Seul und Pfeifenmeister Metz) in einem Schachcafé mit 3:0 im Blitz abgekanzelt zu haben.

   Beinahe wäre dieser denkwürdige Kampf unter den Augen des Weltmeisters ausgetragen worden - doch Turniersieger Anatoli Karpow (zusammen mit Wesselin Topalow und Boris Gelfand, die alle auf 7,5/9 kamen) kam erst gegen 1.30 Uhr und nahm feige den von Christian eilends hingeworfenen Fehdehandschuh nicht auf. Schade, wir hätten zu gerne mit dem Champ "Sieger bleibt sitzen" gespielt. Wäre es nicht schön gewesen, den Weltmeister stets fünf Partien lang als Kiebitz zu haben???

   P.S.: Kurz vor meinem qualvollen Selbstmord - ich verschlucke meine Plastikfiguren, auf daß sie mir im Halse steckenbleiben oder zumindest einen Darmverschluß bewirken - noch der Vollständigkeit halber mein Ergebnis: stolze 3/9.


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