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Anand unterliegt erstmals Fritz on Primergy!

Auftakt zu den Computer-Matches

von Hartmut Metz

Frankfurt Chess Classic 2000


   „Es ist jetzt eine spannende, historische Zeit. Aber in fünf, sechs Jahren wird es vorbei sein", befindet Matthias Wüllenweber. Der Software-Guru von der Hamburger Firma Chessbase sieht nach dieser Spanne den Moment gekommen, bei dem die Menschheit keine Chance mehr hat gegen ein Elektronenhirn. Ein wenig optimistischer - aus Sicht der Kreatur aus Fleisch und Blut - prophezeit Frans Morsch ein Ende der menschlichen Hegemonie in „vielleicht acht Jahren". Dass sein „Kind" Fritz on Primergy schon jetzt die Besten in Schach hält, bewies das in der schwedischen Computer-Weltrangliste SSDF führende Programm am ersten Tag der Matches gegen die Teilnehmer des Fujitsu Siemens Giants. Aus den Top 6 verweigerte sich lediglich Garri Kasparow, weil die Nummer eins auf dem Globus auf ein lukratives Millionen-Duell gegen ein Programm hofft. Alexej Schirow weilt derzeit bei einem Turnier in Mexiko und wird seine beiden Partien am Donnerstag und am Samstag (jeweils 13 Uhr) im Taunus-Tagungszentrum in Bad Soden nachholen. Dabei unterscheiden sich die Tabellen zwischen Fujitsu Siemens Giants und der Computer-Matches lediglich durch die Resultate gegen Kasparow beziehungsweise Fritz on Primergy.

 

Viswanathan Anand

Viswanathan Anand

 

   Nach dem ersten Tag nährt die deutsche Kombination die Hoffnungen von Frans Morsch auf den erhofften Platz unter den ersten Drei. Ausgerechnet Viswanathan Anand, der bei den Frankfurt Chess Classic (FCC) noch nie gegen Fritz on Primergy verloren hatte, büßte seinen Nimbus ein. Der Computer-Inder galt bis dato als weltweit größter Experte, nachdem er in Frankfurt die Siemens-Chessbase-Symbiose 1,5:0,5 (1998) und 2,5:1,5 (1999) in die Knie gezwungen hatte. Erstmals musste der Weltranglistenzweite nach 44 Zügen die Waffen strecken. „Die Taktik nach Dg5 habe ich verpasst. Die Stellung wurde unangenehm. Ich hatte gedacht, noch über genügend Zeit zu verfügen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen - aber bald erkannte ich, dass das nicht mehr ging", berichtete der Anziehende vom Ende des Schreckens. Der Glauben der Fans, ihr Liebling könne sich wegen der ungleichfarbigen Läufer in ein Remis retten, erwies sich als illusorisch. Mit Turm, Läufer, König und Freibauern baute Fritz on Primergy eine hübsche Zugzwangstellung auf, in der der Tiger von Madras sofort die Krallen einzog. Tipps für seine Kollegen wollte „Vishy" anschließend keine geben: „Ich spielte so schlecht, weshalb kein Anlass dazu besteht." Die viel beschworene Anti-Computer-Strategie in der Eröffnung scheint Anand nur begrenzt einsetzbar: „Bei den niederländischen Meisterschaften bekamen auch nur zwei von elf Spielern die geeignete Eröffnung aufs Brett." In seinem Mini-Match, das heute Abend seine Fortsetzung findet (um 18 Uhr beginnen die Rückspiele), bekam der 30-Jährige überraschend die Holländische Verteidigung vorgesetzt. Ob sein Abspiel noch künftig als „eine der Hauptvarianten" gilt, sei zweifelhaft, scherzte Anand, nachdem er seinen Humor wieder gefunden hatte.

   Wladimir Kramnik, Alexander Morosewitsch und Peter Leko verbuchten immerhin Unentschieden. Ja, der Ungar verbreitete eine Kampfansage: „Mit Schwarz ist ein Remis okay - und mit Weiß kann ich auf Gewinn spielen. Morgen will ich der Maschine zeigen, was Schach bedeutet." Der Weltranglistensechste kam am leichtesten zur Punkteteilung. Aber selbst in dieser Begegnung diktierte Fritz on Primergy das Geschehen. Die schlechte Bauernstruktur des Nachziehenden blieb jedoch ohne Auswirkung, weil Leko ungleichfarbige Läufer herbeiführen konnte. Zuvor hatte der 21-Jährige auf einen dubiosen Angriff auf der g-Linie verzichtet. Begründung: „Das ist gefährlich gegen Menschen. Nicht aber gegen Fritz. Der lässt nach der Turmverdoppelung alles stehen, weil sein Turm auf e2 alles hält, während es der Mensch in einer solchen Stellung mit der Angst zu tun bekommt." Ähnliche Gedankengänge führten auch zu einem verzögerten Bauerntausch auf g3, als der König nicht zurücknehmen konnte. „Bestimmt hätte Fritz ansonsten Kxg3 gespielt, um sich einen Freibauern auf der h-Linie zu schaffen." Nachdem Mathias Feist die Variante eingab und der mit acht Prozessoren a 700 Megahertz bestückte Fritz on Primergy den Zug Kxg3 tatsächlich ausspuckte, setzte Leko fort: „Gegen Menschen ist das egal. Da mache ich mir wegen eines solchen Freibauern keine Sorgen. Aber gegen die Maschine ...", sprach der aufstrebende Stern und ergänzte, „Fritz setzt immer auf Freibauern."

   Prinzipiell wollte der Großmeister aus Szeged auf Anti-Computer-Schach verzichten. Der Grund liegt allerdings nicht an Zweifeln daran, sondern an Lekos langer Pause. „Ich habe vier Monate seit Linares nur trainiert. Deshalb will ich normal spielen, um ein Gefühl für das Giants zu bekommen." Seinen Eröffnungsplan konnte er dabei nicht umsetzen. Allzu gerne hätte er Fritz on Primergy mit Holländisch überrascht. Doch als er von der Schlappe seines Trainingspartners Anand hörte, war Leko „geschockt und dachte, ich spiele besser etwas Anderes". Gesagt, getan - dennoch folgte das Programm einer ellenlangen Variante des Vierspringerspiels. „Mein Freund Thomas Luther kennt das System sehr genau. Ich sah aber, dass nach der Turmumgruppierung über b4, g4, g5 nach e5 keine ernste Gefahr droht."

   Die musste Alexander Morosewitsch schon eher fürchten. Der Held des Masters im Vorjahr, der trotz seinen ansonsten bescheidenen Vorstellung damals 1,5/2 gegen Fritz on Primergy eroberte, entwischte „glücklich ins Remis". Der Russe hatte den natürlich anmutenden Zug 31...g6 gezogen, um den weißen Läufer aus seiner dominanten Position auf f5 zu vertreiben. Überraschend zog ihn das Elektronenhirn nicht wie ein Mensch automatisch weg, sondern konterte mit dem „überraschenden Gegenangriff 32.f4. Ich hatte Glück, dass Sc4 gerade noch ging", bekannte Morosewitsch. Dies mündete zwar in ein unangenehmes Endspiel mit dem schlechteren Läufer, aber dies hielt er. Am Schluss zog das Computer-Programm noch ein paarmal seinen König umher, ehe Matthias Wüllenweber (er hat eine Wertungszahl von rund 2000) ein Einsehen hatte und Remis offerierte. In dem Bauernendspiel gab es für beide Seiten - trotz des isolierten schwarzen Doppelbauern - kein Durchkommen, nachdem Fritz on Primergy womöglich laut Großmeister Luther vor dem letzten Läufertausch c5 verpasst hatte. Die Auswirkungen dürften hinter dem Horizont des Rechners verschwunden sein, ansonsten hätte er solch ein Opfer sicher gebracht. Gerade in Endspielen ist das Programm offensichtlich gar nicht mehr anfällig, sondern stürzt selbst die besten Kontrahenten in Verlegenheit.

   Morosewitsch schert sich zwar nicht um die gestiegene Rechnergeschwindigkeit - die Primergy ist rund dreimal schneller als das Vorgängermodell 1999, was eine größere Rechentiefe von etwa einem Halbzug bedeutet -, aber schwer sind Vergleiche mit einem Computer dennoch für ihn. Entgegen seinem Naturell darf er „die Stellungen nicht öffnen und muss scharfe Varianten vermeiden. Ich weiß, dass ich mich zurückhalten muss". Einen Vorteil vor der heutigen zweiten Begegnung besitzt der Weltranglistenfünfte: „Ich erwartete mit Weiß zu spielen. Als ich ans Brett kam und sah, dass ich Schwarz habe, amüsierte mich das", berichtete der 23-Jährige und rang dem Patzer einen positiven Aspekt ab, „so habe ich jetzt zwei Tage, um mich auf die Partie mit Weiß vorzubereiten!"

   Als erster Top-Großmeister stieg Wladimir Kramnik in den Ring. Bis auf eine Blitzpartie in München 1994 hatte er bis dato noch nie bei einem Turnier gegen ein Programm gespielt. Mancher Experte erwartete daher leichte Beute für Fritz on Primergy, der auf beiden Seiten 22 Minuten Bedenkzeit eingestellt hatte. Tatsächlich stehen jedem Akteur 25 Minuten zu, doch um ausreichend Zeit für die Übertragung der Züge auf das Brett zu haben, ist diese Einstellung bei der Fujitsu-Siemens-Chessbase-Kombination niedriger. Kramnik bestimmte lange Zeit das Geschehen und verfügte stets über einen kleinen Vorteil. „Was der Computer tat, war Müll", meinte Kramnik bis zu Zug 30. Da ihm anschließend „kein Plan" in den Sinn kam, die Zeit unbarmherzig nach unten tickte und der Gegner das Zepter übernahm, schien dem Kasparow-Herausforderer die Partie vollends zu entgleiten. „Die Maschine ist sehr stark, das fühlte ich", merkte Kramnik in dieser Phase. Die kritische Stellung wickelte er aber noch in ein Springer-Endspiel ab, in dem Fritz on Primergy noch einen h-Bauern besitzt. Obwohl sich das Gerät mit etwas mehr als einer Bauerneinheit in Vorteil wähnte, akzeptierte Wüllenweber Kramniks Remisofferte. Dies dabei vor allem, weil der Weltranglistendritte nur noch rund zwei Minuten auf der Uhr hatte! „Bei zehn Minuten für ihn, hätten wir weiter gespielt", sagte Wüllenweber. Fritz-Programmierer Mathias Feist erläuterte den Grund für dieses widersprüchliche Verhalten wie folgt: „Wir wollen nächstes Jahr gegen alle antreten. Würden wir bei zwei Minuten weiterspielen, würde uns das von den Großmeistern wie von den Fans übel genommen. Es herrscht ein gewisser Druck, solch ein Remisangebot zu akzeptieren", plauderte Feist aus dem Nähkästchen. Dass die Lage durchaus kritisch war, schätzten zwei deutsche Könner. „Das Remis war sehr generös", kommentierte der deutsche Schnellschach-Meister Robert Rabiega, der ab Donnerstag im Frankfurt Chess Masters teilnimmt. „Die Stellung ist sehr schwer zu halten", teilte auch Luther nicht die Meinung Kramniks und nannte das Dilemma „fies. Aber das ist eben der Bonus, den man den Spielern geben muss". Auch aus schachlicher Warte bedauerte er das zu frühe Ende des Endspiels. „Ab dieser Stellung spielt Fritz immer den stärksten Zug. Es wäre interessant gewesen zu sehen, ob Kramnik die Partie hält. Leicht wäre es für ihn nicht geworden."

   Am ersten Tag steht somit die inzwischen 1,4 bis 1,5 Millionen Knoten pro Sekunde (nach nur 900.000 beim Sieg im Masters 1999) berechnende Maschine auf Rang eins mit 2,5:1,5 Punkten. Selbst wenn sich Fritz on Primergy schon heuer gegen die stärksten menschlichen Denkstrategen durchsetzen sollte: Der Spaß am königlichen Spiel soll trotz der Entwicklung nicht verloren gehen. Ein Ferrari fährt auch schneller, als ein Mensch läuft. Wer würde deshalb einen 100-Meter-Sprint der Weltklasse langweilig finden? Bleibt man eben irgendwann unter sich. Ferrari und Ferrari, Mensch und Mensch.

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