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Kramnik verliert nur in der Limousine Zeit

Herausforderer macht überraschend die Schach-WM noch einmal mit dem Sieg zum 4:6 spannend / Anand verpasst vorzeitige Titelverteidigung

Foto und Text von FM Hartmut Metz, 7. Dezember 2008

 

Viswanathan Anand hat in Bonn souverän den WM-Titel verteidigt. Der russische Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik (33) blieb in dem mit 1,2 Millionen Euro dotierten Zweikampf chancenlos. Der 38-jährige Inder setzte sich überzeugend mit 6,5:4,5 durch. Zur Audienz empfing der Schach-König Hartmut Metz zum Interview. Der gut gelaunte Weltmeister alberte einmal mehr herum.

Frage: Wenn Sie so frech daherreden, gleich eine dreiste Einstiegsfrage: Weiß der Weltmeister überhaupt, dass Schwarz rochieren darf?
Anand (lacht): Nö, das haben die mir erst nach dem Match verraten!

Frage: Ist es heutzutage ein Fehler, mit Schwarz zu rochieren?
Anand: Bei dieser Struktur im Meraner spielt Schwarz normalerweise gxf6 und der König steht oft besser auf e7. Es ist aber wirklich witzig, dass ich während der WM in so vielen Partien nicht rochierte! (lacht)

Frage: Was gab den Ausschlag für Ihren klaren Sieg? Sie selbst räumten ja bei der Abschlusspressekonferenz ein, niemals mit einem Zwei-Punkte-Vorsprung gegen Kramnik gerechnet zu haben.
Anand: Das trifft zu. Ich habe wirklich sehr viel vorbereitet. Ich spielte d4, ich fand einige scharfe Varianten in meinen Abspielen, zum Beispiel in der Meraner Variante. Es sieht so aus, als habe Wladi das so nicht erwartet! Das scheint mir den gewaltigen Unterschied in den ersten sechs Partien gemacht zu haben.

Frage: Ihre Eröffnungsvorbereitung war also viel besser.
Anand: So einfach kann man das auch nicht sagen. Bei einem Zweikampf bereiten sich beide Seiten monatelang vor - und wessen Ideen aufs Brett kommen und wer eher erahnt, was passiert, der gewinnt. Diesmal hatte ich das bessere Ende für mich.

Frage: Ließ sich das Spiel aus Partie drei und fünf nicht mehr fortsetzen? Erst zeigten Sie eine Neuerung im 17. Zug, dann im 15. Zug - die Fans hätten gerne auch eine in Partie sieben im 13. gesehen …
Anand: Ha, ha. Das hätte ich natürlich versucht - aber dummerweise kam mir der Farbwechsel zur Halbzeit dazwischen ... Ich bekam zweimal Weiß, so dass Wladimir genügend zusätzliche Tage zur Verfügung bekam, um sich gegen die scharfe Variante zu wappnen. Deshalb entschlossen wir uns, die Eröffnung zu wechseln.

Frage: Wann haben Sie die herrliche Kombination in der fünften Partie mit der Pointe Se3 ausgeheckt? Schon zehn Züge vorher bei Tc5 oder nach Tc3?
Anand: Nein, ich fand es noch deutlich früher. Als ich De5 spielte, entdeckte ich es bereits.

Frage: Beachtlich! Eine zwölfzügige Kombination.
Anand: Für eine Minute sorgte ich mich. Ich sah aber dann: Ah, ich hab' noch Se3 und beruhigte mich wieder. Deshalb konnte ich Tc5 und Tc3 ziehen, um alles abzutauschen und mit Se3 die Bewertung völlig überraschend umzukehren. Als die Stellung erreicht wurde, stierte mich Wladi plötzlich mich mit einigem Erstaunen an, so dass mir erst klar wurde: Er hat bisher Se3 nicht gesehen! Als ich zog, sackte er dann in sich zusammen.

Frage: Kramnik musste sich deswegen einige Kritik anhören, wie man bloß Se3 übersehen könne … Teilen Sie diese? Ich meine, in Zeitnot rechnet man vielleicht bis 33.Txb7 Tc1+ 34.Lf1 und eventuell dann noch Sxh2, Kxh2, Txf1 f3 und Weiß gewinnt.
Anand: Das stimmt schon, das kann in Zeitnot passieren. So etwas ist normal in Zweikämpfen, da unterlaufen jedem mal Fehler. Man kann nicht alles vorhersehen. Natürlich war es ein Patzer, aber zu denen versucht man den Gegner zu verleiten - das ist Schach.

Frage: Ihr herrliches Motiv mit dem Springer und Mobilisierung des Freibauern schien niemand geläufig zu sein. Selbst einige Großmeister im Presseraum vermochten sich an kein ähnliches Motiv zu erinnern. Kennen Sie ein Vorbild?
Anand: Nein, mir fällt auch keines ein. Am Brett fand ich es aber relativ schnell.

Frage: Sie selbst haben vor der Ausführung von Se3 nervös gewirkt und kurz gezögert.
Anand: Mich überraschte, dass es ihm entging. Da er es nicht mehr verhindern konnte, sagte ich mir, schau nochmal kurz rein, damit du dir sicher bist.

Frage: Kramnik befand, die Variante aus der dritten Partie zu wiederholen, sei von ihm "womöglich dumm" gewesen und habe wohl das Match entschieden. Teilen Sie die Ansicht?
Anand: So einfach kann man das nicht einordnen. Was hätte er gesagt, wenn er die Eröffnung wechselt und auch verliert? Derlei Kommentare hängen vom Ergebnis ab.

Frage: Wer erwies sich als Ihr wertvollster Mitarbeiter: Rustam Kasimdschanow, Peter Heine Nielsen, Surya Shekar Ganguly, Radoslav Wojtaszek oder das stärkste Schach-Programm "Rybka"?
Anand (lacht): All die genannten arbeiteten als ein Team, inklusive "Rybka". Wir setzten auch "Fritz" ein. Es passte alles super zusammen! Sie alle leisteten sehr gute Arbeit. Während des Zweikampfs musste ich keinem auftragen, was er zu tun hat. Jeder wusste es und setzte alles wie gewünscht um. Ich konnte ihnen also alles überlassen. Das war ein sehr schönes Gefühl!

Frage: Charakterisieren Sie bitte kurz Ihre vier menschlichen Sekundanten mit deren besonderen Vorzügen.
Anand: Nielsen ist sehr gut organisiert. Er kümmerte sich um alles. Kasimdschanow ist sehr begabt darin, Probleme auf dem Brett ausfindig zu machen. Rado und Surya kann man um alles bitten: "Schau hier, könntet ihr das prüfen oder das Problem lösen?" - die machen sich danach wie zwei Verrückte an die Arbeit! Beide sind aber auch sehr begabte Spieler! Ich mag wirklich alle vier!

Frage: Vor allem die Aufnahme von Wojtaszek in Ihr Sekundantenteam überraschte. Engagierten Sie ihn mit dem Hintergedanken, auf 1.d4 umzustellen?
Anand: Ja, ein bisschen. Ich erzähle Ihnen, wie es dazu kam: Ich spielte zweimal in der Bundesliga gegen ihn, als wir mit Baden-Baden auf Hamburg trafen. Als ich mich des Morgens auf ihn vorbereitete, wurde mir klar: Der Mann kann was! Deshalb dachte ich: Frag ihn doch mal. Natürlich nicht nach der Partie vor allen. Ich ließ mir jedoch seine E-Mail-Adresse geben und kontaktierte ihn später. Er stimmte zu.

Frage: Mit d4 torpedierten Sie Kramniks Vorbereitung. Der Russe beklagte, Monate für unnütze Varianten verschwendet zu haben. Ein enormer Vorteil?
Anand: Nicht nur. Ich will's versuchen zu erklären: Mit meinem 1.d4 verlor er sicher einerseits ein, zwei Monate Arbeit, die ihm nichts brachten. Andererseits kennt Wladi sich viel besser aus mit dem Zug, weil er das ständig mit Weiß spielt. Folglich musste ich den Rückstand erstmal aufholen. Vor- und Nachteile gleichen sich daher womöglich aus, vielleicht bekam ich dadurch einen kleinen Vorteil. Aber gänzlich unerwartet dürfte ihn 1.d4 nicht getroffen haben - Peter Leko hatte schließlich bei der WM 2004 auch als e4-Spieler gegen ihn umgestellt.

Frage: Besitzt die Elo-Zahl bei Sekundanten keine sonderliche Aussagekraft? In der Weltrangliste finden sich Kramniks Sekundanten, vor allem der Weltranglistenneunte Leko, Sergej Rublewski (Nummer 33) und Laurent Fressinet (Nummer 46) alle weit vor Ihren. Muss man bei der Auswahl auf anderes achten?
Anand: Natürlich sollte man die Spielstärke ins Kalkül einbeziehen. Es gibt jedoch viele weitere Faktoren. Die Jungs sind wirklich alle sehr nett, und wir kommen prima miteinander aus! Das gehört auch dazu.

Frage: Verengt sich die Zukunft des Schachs auf immer mehr, immer längere vorbereitete Varianten? Sehen Sie natürliche Grenzen, etwa im 30. Zug? Oder bleibt alles nur eine Frage des Gedächtnisses?
Anand: Lustigerweise haben wir bewiesen, dass es noch immer genügend herauszufinden gibt in einer früheren Partiephase! Klar, die Profis müssen sich vorbereiten. Aber sie haben auch anders als die Amateure, für die Chess960 eine gute Alternative darstellt, dafür Zeit, um sich vorzubereiten und vorzubereiten ...

Frage: Entspannten Sie nach der komfortablen 4,5:1,5-Führung zu sehr? Sie wirkten plötzlich gelöst, lachten - und vorher waren Sie ungewohnt ernst. Verführt der für unmöglich gehaltene Vorsprung dazu, dass man einen Gang zurückschaltet und nur noch Remis anstrebt?
Anand: Nein, ich war eigentlich immer relaxt, wenn ein freier Tag anstand. Das war der Hauptgrund für die gute Laune nach Partie sechs.

Frage: Änderte die haushohe Führung Ihre Einstellung? Verspürten Sie plötzlich die Neigung, den Rest durchzuremisieren?
Anand: Nach der sechsten Partie wäre das zu früh gewesen. Aber nach der achten Begegnung stand außer Frage, dass er nahezu jede Partie gewinnen muss, um noch eine Chance zu haben. Nach der achten Runde benötigte er noch 3,5/4, nach dem neunten Duell 3/3. Nach der Niederlage konnte ich glücklicherweise die Rechnerei einstellen. Ich bemühte mich, den Gesamtstand auszublenden, wusste jedoch selbstverständlich, dass alles zu meinen Gunsten steht.

Frage: Wühlte Sie die neunte Partie auf?
Anand: Ja, da bekam ich ein paar Schrammen ab und stand einen Moment auf Verlust, ehe ich entwischte.

Frage: Was bewegte Sie nach der ersten Niederlage, in der letzten Partie wieder zu 1.e4 zurückzukehren?
Anand: Da befand sich Wladi im Kamikaze-Modus. Als Desperado durfte er sich alles erlauben. Gegen d4 hätte er auch einiges gewagt. Weil ich mich nach e4 heimischer fühle, beschloss ich, zu meinem Standardzug zurückzukehren.

Frage: Kramniks übliches Arsenal, Russisch oder die Berliner Mauer, mussten als Remiswaffen kaum gefürchtet werden.
Anand: In der Tat. Die Berliner Mauer war nicht zu erwarten, das half!

Frage: Richtig gut kannte sich Ihr Gegner im Sizilianisch nicht aus. Nachher erkundigte sich Kramnik, ob 9...Dc5 eine Neuerung gewesen sei. Hätten Sie die Stellung im Zweifelsfall auch gewonnen?
Anand: Bis Ende der 90er spielte er regelmäßig Sizilianisch. Daher bringt er schon Erfahrung mit, allerdings zählt die Najdorf-Variante sicher nicht zu seinen Spezialitäten. Ich stand am Schluss etwas besser, weil aber ein Remis reichte ...

Frage: Platz eins der Weltrangliste spukte in dem Moment gewiss nicht in Ihrem Hinterkopf herum, als das Remisangebot kam.
Anand: Nein, das wäre töricht. In Bonn lautete das Ziel ausschließlich, in Bonn zu gewinnen. Nicht mehr und nicht weniger. Klar, es freut mich jetzt auch, in der Weltrangliste wieder zu Wesselin Topalow aufgeschlossen zu haben.

Frage: Ihr Ziehvater Hans-Walter Schmitt berichtete, in Indien sei nach Ihrem grandiosen Erfolg die Hölle los. Wird Diwali (ein viertägiges indisches Fest, das dem westlichen Weihnachten entspricht) für Ihre Landsleute daher richtig schön?
Anand (lacht): Ja, stimmt, das erregte diesmal viel Aufmerksamkeit in Indien. Ich bekam Anrufe vom Präsidenten, vom Ministerpräsidenten und vielen Freunden.

Frage: Wie sollen der Staatspräsident und Ihre Heimatstadt Chennai Sie noch ehren? Beim letzten WM-Titel wurden Ihnen doch schon alle erdenklichen Würden verliehen. Es bedürfte ja fast neuer Ehrenbezeugungen.
Anand: Ich bin sicher, die finden noch was!

Frage: Sie nehmen sich jetzt erst eine Auszeit, lassen sich in Indien feiern und verfolgen die Schach-Olympiade in Dresden im Internet?
Anand: Ja, ich war mir schon vor der WM sicher, dass ich zu schlapp sein würde und keine Energie mehr für irgendein Turnier besitze. Deshalb sagte ich zeitig für die Olympiade ab.

Frage: Wie geht es mit der WM weiter? Ihr nächster Herausforderer, Wesselin Topalow oder Gata Kamsky, steht noch nicht fest, weil es Gezänk um den Austragungsort und einen Sponsor gibt. Findet die nächste WM daher erst 2010 statt?
Anand: Ich habe jetzt wirklich keine Lust, mich dazu zu äußern. Ich will mich jetzt nur über meinen Titel freuen!

Anand
Viswanathan Anand


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