Der "Hexer von Riga" lässt das Nilpferd absaufenSchachzauberer Michail Tal war der Meister der speziellen Opfervon FM Hartmut Metz, 12. November 2011 |
Es gibt zwei Arten von Opfern: korrekte und meine!" Dieser legendäre Satz stammt von dem Weltmeister, der so riskant wie kein anderer spielte: Michail Tal. Unterlegene erklärten sich die Niederlagen gegen den "Hokuspokus" (wie es Ex-Weltmeister Wassili Smyslow nannte) mit Tals "hypnotischem Blick". Pal Benkö trat deshalb 1959 beim Interzonenturnier mit dunkler Brille an. Der "Hexer von Riga" zeigte sich höchst amüsiert und organisierte flugs eine Sonnenbrille mit abnorm großem Gestell - Benkö protestierte beim Schiedsrichter. Natürlich vergebens - und der Amerikaner verlor auch die Partie.
Tal, der am Mittwoch 75 Jahre alt geworden wäre, stürmte binnen kürzester Zeit an die Spitze. 1960 vernichtete er Michail Botwinnik im WM-Finale mit 6:2 (bei 13 Remis) und war mit 23 jüngster Weltmeister aller Zeiten. Doch auch bald der mit der kürzesten Regentschaft. Der Wissenschaftler Botwinnik forderte Revanche und nahm sie ein Jahr später. Tal hatte den Altmeister unterschätzt und weiter seiner exzessiven Lebensweise gefrönt, anstatt sich gut vorzubereiten.
Der Figurenkünstler verzauberte aber noch drei Jahrzehnte lang die Fans dank seines fantasievollen Angriffsschachs. Am 27. Juni 1992 musste Tal jedoch seinen ungesunden Süchten Tribut zollen. Der Kettenraucher, der auch zu viel Alkohol genoss und Morphium nahm, starb mit 55. Die Nieren versagten endgültig.
Tal wurde 1988 erster Weltmeister in Fünf-Minuten-Blitzpartien, gewann wie Botwinnik sechsmal die sowjetische Meisterschaft und blieb zwischen Oktober 1973 und Oktober 1974 in 93 Partien in Folge ungeschlagen - ein Rekord, der bis heute Bestand hat. Dieser ist angesichts des verwegenen Opferspiels des "Hexers von Riga" umso erstaunlicher.
Tal spielte nicht nur brillant, sondern auch schnell - was seine Gegner zusätzlich verwirrte. Nur 1964 brütete der Exzentriker bei der UdSSR-Meisterschaft 50 Minuten lang vor einem Springeropfer gegen Jewgeni Wasjukow. Die Presse feierte ihn für sein tiefgründiges Sinnieren. Wie er später grinsend erzählte, zog der "Mozart des Schachs" an der Stelle aber aus einem anderen Grund so lange nicht: Ihm ging eine Sentenz von Kronej Tschukowski - "Oh, das muss schon Arbeit heißen, ein Nilpferd dem Sumpf zu entreißen" - nicht mehr aus dem Kopf! "Kettenwinden, Hubschrauber, Brechstange und Strickleiter fielen mir ein - ich fand aber keine akzeptable Antwort!" So kam Tal zum Schluss: "Dann soll es halt untergehen" und überließ seinen Springer dem gleichen Schicksal durch ein Opfer ...
Zahlreiche Anekdoten ranken sich um den Ausnahmekönner. So wollte Großmeister Aivars Gipslis das phänomenale Gedächtnis Tals auf die Probe stellen und fragte fintenreich, ob er sich erinnern könne, "welche Variante Keres als Weißer in einem Damengambit gegen Boleslawski in der dritten Runde der 20. UdSSR-Meisterschaft" vor vier Jahren gespielt habe. Tal dazu lakonisch: "Du willst mich wohl zum Narren halten! Die Partie Boleslawski - Keres war nicht in der 3., sondern in der 19. und letzten Runde. Keres spielte nicht mit den weißen, sondern mit den schwarzen Steinen - und außerdem war es kein Damengambit, sondern eine Spanische Partie!"
Nachstehend eines der legendären Opfer Tals beim Kandidatenturnier 1965 in Bled gegen den dänischen WM-Anwärter Bent Larsen.