Das Zusammenwirken der FigurenABC der Schachtaktik
Mit freundlicher Widmung für meine sehr geschätzten Schachfreunde Charly und Jürgen |
Sonntag morgen um 9:30 Uhr, ein letzter Kaffee vor der entscheidenden letzten Partie in der Verbandsrunde. Charly setzt sich an den Tisch, spitzt den Bleistift und bereitet sich gedanklich auf die anstehende Partie vor. Schließlich steht der Aufstieg in die Landesliga kurz bevor. Doch was ist das? Da wackelt doch was, der Tisch wippt bei jeder kleinsten Berührung auf und ab. Und das am heiligen Sonntag morgen! Wieso wackelt gerade mein Tisch, fragt sich Charly. Eine feste Tischplatte, vier Beine ein schicker Parkettboden und doch: Der Tisch wackelt - eindeutig und definitiv! Kein Problem legen wir einen Bierdeckel unter sagt sich Charly. Keiner vorhanden. Doch Jürgen - aufmerksam und hilfsbereit wie immer - hat kurzerhand ein Stück Papier parat. Das sollte es tun und unser kleines Problem beseitigen. Nun noch kurz zweimal Falten und eine Kniebeuge später scheint das Problem erstmal gefixt! Doch wirklich? Bereits kurzes Rütteln am Tisch zeigt, dass die neu gefundenen Festigkeit immer noch instabil ist. Erst eine weitere lästige Nachjustierung später steht er nun tatsächlich fest! Prima, das hat ja geklappt, freut sich Charly! Das Problem ist gelöst! Wirklich gelöst? Kaum stößt ein weiterer Schachfreund an den Tisch, verrückt er sich wieder und er wackelt und wackelt und wackelt... Verdammt - wie soll man sich da nur konzentrieren?
Doch wieso wackeln Tische? Ist doch bloß eine Tischplatte, vier Beine und ein Boden, das sollte doch stabil hinzubekommen sein! Tja, leider ist der Raum nicht vierdimensional und bei vier Beinen ist eben einer zu viel, um ein sicheres Gleichgewicht zu garantieren. Vielleicht werden sie mir direkt zustimmen, möglicherweise auch Einsteins Überlegungen zum Raum-Zeit-Kontinuum einwenden, aber in jedem Falle ist eine Frage bisher ungeklärt: Was zum Teufel hat dieser dämliche wackelnde Tisch - seine vier Beine, die Tischplatte und der Boden mit unserem heiß geliebten Schachspiel zu tun? Mit dem Schachbrett, den 64 Feldern und den 32 Figuren. Diese Antwort möchte ich Ihnen nun gerne geben!
Wie wir alle Wissen hat Schach seiner Natur nach strategische und taktische Merkmale. Doch es gibt auch noch etwas viel tiefergehendes! Ein Wissenskomplex, der bisher nur mäßig und noch dazu unvollständig tradiert worden ist. In dieses Geheimnis möchte ich Sie nun gerne einweihen und zeitgleich ein großes Dankeschön an Großmeister Awerbach aussprechen für diesen "eye-opening moment" nach Studium seines Werkes "Erfolg im Endspiel"!
Es beginnt ganz einfach damit, dass eine Figur die Eigenschaft hat auf einem Feld zu stehen. Dieses Feld hält sie besetzt; die Figur greift das Feld auf dem sie steht jedoch nicht an. Eine Figur kontrolliert jedoch die Felder auf die sie gemäß den Regeln ziehen darf. Dabei ist es unerheblich, ob diese Felder leer oder durch eine Figur besetzt sind (eine gegnerische oder eine eigene). Im Falle einer gegnerischen Figur spricht man von einem Angriff, im Falle von einer eigenen Figur von Deckung.
Merke: Die Kontrolle eines Feldes geht der Besetzung des Feldes voraus!
Eines der wichtigsten Konzepte im Schachspiel ist der Figurenangriff. Dem Angriff geht gewöhnlich die Angriffsdrohung voraus. Der Gegner hat die Möglichkeit sich gegen den Angriff der Figur zu wehren ohne die angegriffene Figur zu verlieren: Er kann erstens die angreifende Figur schlagen, zweitens die angegriffene Figur fortziehen oder drittens die Angriffslinie/-diagonale verstellen.
Tipp: Zur Vereinfachung ihres Denkens, müssen sie nicht unbedingt diese drei Möglichkeiten durchgehen. Eine einzige Reaktionsmaßnahmen zu merken reicht völlig aus: Prüfen Sie, ob eines der Felder der Angriffslinie unter ihrer Kontrolle ist (alle Felder zwischen angreifender und angegriffener Figur). Fertig! Da ich diese Vereinfachung bisher nicht in der Literatur gefunden habe, möchte ich ihr einen Namen geben: Den Karcher-Konter (kurz: KK)!
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Wenn sie in Kauf nehmen wollen, dass ihre angegriffene Figur geschlagen wird können sie auch die erweiterten Reaktionsmöglichkeiten nutzen. Nennen wir diese, den erweiterten Karcher-Konter, dieser hat in der Literatur bereits einen Namen bekommen - den Gegenangriff (siehe DWZ Plus: "Der Gegenangriff").
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Die anderen Kampfverfahren zur Beantwortung eines Figurenangriffs finden bereits bei Schachanfängern breite Anwendung: Das mitunter reumütigen Wegziehen der Figur oder die Deckung der Figur (Ausblick: DWZ Plus - Figurentausch). Diese beiden Möglichkeiten, sollen an dieser Stelle nur genannt werden, da ich davon ausgehe, dass sie diese bereits beherrschen. Im Vordergrund soll stehen, Ihnen mehr Handlungsoptionen aufzuzeigen. Diese zusätzlichen Optionen durch den KK und EKK, machen zu einem großen Maße den Unterschied zwischen starken und schwachen Spielern aus! Dieser Vorteil ist vergleichbar mit dem Joker in einem Kartenspiel. Der Spieler mit dem Joker auf der Hand hat ein Mehr an Handlungsoptionen. Und selbst wenn er diesen Joker nur einmal in der Partie ausspielt, kann das der Partie die entscheidende Wendung geben.
Zusammenfassung: Einen Figurenangriff können sie erwidern durch den KK, EEK oder die meist passiveren Alternativen Deckung oder Wegziehen der angegriffenen Figur.
Häufig hat ein Figurenangriff noch ein weiteres sehr wichtiges Merkmal. Denn wird eine Figur angegriffen und steht auf der Wirkungslinie (von angreifender Figur in Richtung angegriffener Figur) eine weitere gegnerische Figur dahinter, spricht von man von Verstellung oder Fesselung. Sehr wichtig zu verstehen ist, dass eine gefesselte Figur erheblich an Wert einbüßt - sie ist entwertet (J. Awerbach). Sie können das durchaus als temporären Abschlag von ihrem Punktewert sehen (z.B. gefesselter Springer 1.5 Punkte, statt 3.0). Da dieser Vorteil temporärer Art ist, sollten sie versuchen diesen auszunutzen und gegebenenfalls in einen anderen Vorteil zu verwandeln (in Materialvorteil, bessere Bauernstruktur, etc.).
Details zu diesem Thema folgen im DWZ Plus: "Transformation".
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Auch die Verstellung einer eigenen Figur ist ein schwergewichtiges Manko! Diese Verstellung stört das Zusammenwirken der eigenen Figuren und damit die Harmonie der eigenen Struktur.
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Haben sie alles bereits gewusst? Gratuliere, sie können getrost ans Studium von weiterführender Schachtaktik gehen! Falls sie Lücken festgestellt haben, ist das völlig normal und umso besser. Denn Sie haben jetzt die Chancen diese Lücken zu schließen und ihrem wackelnden Tisch nun ein festes Fundament zu verleihen (da haben wir ihn wieder den wackelnden Tisch)! Damit wird vieles auf einmal möglich: Einen klareren Blick für eine Stellung, ein tieferes, schnelleres und exakteres Berechnen von Varianten und das Vermeiden von taktischen Patzern!
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Fragen:
1. Welche Figur kann ein Springer angreifen, ohne dass diese ihn zeitgleich angreift?
2. Welche Figur kann einen Springer angreifen, ohne dass dieser sie zeitgleich angreift?
3. Welche Figur schlägt anders als sie zieht?
4. Angenommen sie seien in hochgradiger Zeitnot beim Endspiel Springer gegen Läufer! Was haben sie zu strategisch zu beachten, wenn sie die Springerpartei vertreten (Tipp: Felderkontrolle durch gegnerischen Läufer)
5. Welche Möglichkeiten des Karcher-Konters haben sie bei einem Angriff auf ihren König?
6. Haben sie die Möglichkeit des erweiterten Karcher-Konters bei einem Angriff auf ihren König?
7. Haben sie die Möglichkeit des KK bei einem Doppelschach?
8. Haben sie die Möglichkeit des EKK bei einem Doppelschach?
9. Welche Angriff ist der stärkste Angriff im Schachspiel?
10. Beim Angriff welcher Figur muss der König immer ziehen? Ausnahmen?
11. Welche Farbe hat das Feld "a2"? Wieso ist es wichtig das zu wissen?
12. Angenommen die Dame greife den gegnerischen König auf einer Linie im Abstand von 2 Feldern an (Schach). In welchen Fällen können sie den KK spielen? In welchen den EKK? In welchen Fällen müssen sie reumütig mit ihrem König weichen? Wie viele Felder stehen dafür zur Verfügung?
13. Die Dame greift den gegnerischen König diagonal im Abstand von 2 Feldern an (Schach). In welchen Fällen können sie den KK spielen? In welchen den EKK? In welchen Fällen müssen sie reumütig mit ihrem König weichen? Wie viele Felder stehen dafür zur Verfügung?
14. Der schwarze König steht auf h8. Wie viele Mattbilder bekommen sie mit weißer Dame und einem weißen Läufer hin (mit/ohne Beteiligung des weißen Königs)?
15. Der schwarze König steht auf e8. Wie viele Mattbilder bekommen sie mit weißem Turm und Springer hin (mit/ohne Beteiligung des weißen Königs)?
16. Wann ist ein KK nicht nötig?
17. Wieso ist eine Fesselung so unangenehm?
18. Welche Figur kann keine Fesselung durchführen? Warum nicht?
19. Welche Figuren können gefesselt werden?
20. In welchem Zusammenhang stehen KK und Fesselung?
21. Inwiefern kann Ihnen die Kampfmethode des KK / EKK auch beim strategischen Spiel helfen?
Wobei hilft dieses Denken generell? Es professionalisiert ihr denken, sie denken danach weniger wie ein Amateur und ein Stückchen mehr wie ein Meister! Wenn sie systematisch bei einen Figurenangriff auf dem Schachbrett als Reaktion den "Karcher-Konter" und den "erweiterten Karcher-Konter" betrachten werden sie weniger Zugmöglichkeiten übersehen.
Warnung: Das Umstellen ihrer gewohnten Denkmethoden auf dieses neue Modell, wird höchstwahrscheinlich zunächst dazu führen, dass sie mehr Fehler begehen. Sie werden stellenweise Kombinationen übersehen, die Ihnen längst in Leib und Blut übergegangen waren. Doch die Mühe lohnt, denn ihre mittelfristigen Erfolge werden sie mehr als entlohnen! Sie können die Basis legen für ein grundlegendes, neues Schachverständnis! Nichts scheint mehr unmöglich oder unerreichbar..
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Literatur:
J. Awerbach ("Erfolg im Endspiel")
J. Rowson ("Understanding the Grünfeld")
PS: Ich empfehle diesen Artikel häufiger zu lesen, auf jede Begrifflichkeit genau zu achten und ihre eigenen Partien zu analysieren auf die Anwendung von KK und EKK. Viel Spaß und Erfolg!