Kasparow verlässt für immer sein Wohnzimmer41-Jähriger tritt nach neuntem Sieg in Linares zurück; Konzentration auf Buchprojekte und politischen Kampf gegen "Diktator Putin"von FM Hartmut Metz, Foto Harald Fietz, 12. März 2005 |
Garri Kasparow; Foto: Fietz
Die Emotionen übermannten Garri Kasparow. Der beste Schachspieler aller Zeiten machte seine letzten Züge im spanischen Linares, dem "Wimbledon des Schachs", bevor er sein Geheimnis lüftete. Ohne diese aufrührenden Momente hätte der 41-Jährige gegen den Bulgaren Wesselin Topalow leicht das Remis erzwungen. Doch Kasparow war in einer ausgeglichenen Stellung nicht mehr Herr seiner Sinne und wickelte ohne Not in ein verlorenes Bauernendspiel ab. Im 30. Zug reichte der Russe zum Zeichen der Aufgabe die Hand über das Brett und erklärte seinen Rücktritt vom Profi-Schach. "Ich sehe keine sportlichen Ziele mehr für mich", befand Kasparow und will in Zukunft "vielleicht noch zum Spaß ein paar Schnellschach-Partien spielen". Der Weltranglistendritte Topalow hatte schon vor dem Abgang geahnt: "Es ist klar, dass keiner von uns das erreichen wird, was Kasparow erreichte - aber das Alter lastet auf ihm."
Auch wenn der Bulgare mit dem Sieg in der zwölften Runde (beide 8 Punkte) aufschloss, war Kasparow bereits zuvor als Gewinner im Kampf um die 100.000 beziehungsweise 75.000 Euro Preisgeld für die zwei Besten festgestanden. Er hatte mit den schwarzen Steinen mehr Partien gewonnen als Topalow. Die Plätze dahinter gingen an die enttäuschenden Viswanathan Anand (6,5), die künftige Nummer eins aus Indien, und Peter Leko (Ungarn/6), der alle zwölf Begegnungen uninspiriert remisierte. Fünfter vor den Schlusslichtern Francisco Vallejo Pons (Spanien) und FIDE-Weltmeister Rustam Kasimdschanow (Usbekistan/beide 4) wurde Michael Adams (5,5). Der Brite hatte zwei Tage zuvor als letzter Großmeister Kasparows Geniestreiche zu spüren bekommen. Mit einem brillanten Wirbel richtete ihn das "Ungeheuer von Baku" in nur 26 Zügen hin. Danach fühlte sich Kasparow ausgebrannt: "Die Rückrunde empfand ich wie den Countdown einer Rakete bis runter auf null. Jeden Tag fürchtete ich mich vor einem schlimmen Schnitzer. Nur am letzten Tag, als ich als Sieger feststand, dachte ich nicht mehr an einen Patzer - und prompt passierte er."
Was für Boris Becker Wimbledon im Tennis, ist für den Weltranglistenersten im Schach Linares: sein Wohnzimmer. Der Moskauer mit dem großen Kämpferherzen baute dort seine beeindruckende Bilanz auf 72 Siege aus. Nur sieben Niederlagen musste Kasparow quittieren. Die Remisquote lag bei ihm mit 89 Friedensschlüssen in 168 Partien weit unter der der Konkurrenz. Bei 14 Teilnahmen in Linares stand der Ausnahmekönner am Schluss neunmal an der Spitze. 2001 hatte er die Konkurrenz in seinem Wohnzimmer um volle drei Punkte deklassiert.
Der Juniorenweltmeister von 1980 in Dortmund feierte grandiose Erfolge. Zwei Jahrzehnte lang führte der charismatische Großmeister ununterbrochen die Weltrangliste an. Im Herbst 1985 erklomm der am 13. April 1963 geborene Bakuer - passend zu seiner Glückszahl - als 13. Weltmeister den Schach-Thron. Dem Sieg über Anatoli Karpow sollten noch zahlreiche weitere gegen seinen russischen Erzrivalen in WM-Zweikämpfen folgen.
Letztlich wurde Kasparow die Geister nicht mehr los, die er selbst rief: Mit Eröffnungsdatenbanken, die inzwischen Millionen Partien enthalten, trieb der Moskauer die Vorbereitung auf die Spitze. Die ersten 15, 20 Züge spulen die Asse heute dank aufwändiger Computer-Analysen herunter. Es gibt immer weniger Überraschungen. Kasparow sorgte auch mit seinen millionenschweren Wettkämpfen gegen Programme für weltweites Aufsehen. Ausgerechnet er war dann 1997 der erste Weltmeister, der im Turnierschach einem Computer unterlag. Wie in Linares kollabierte der extrovertierte Kasparow beim 2,5:3,5 gegen den IBM-Großrechner Deep Blue in der letzten Begegnung.
Den Titel verlor der Weltmeister 2000 an seinen Landsmann Wladimir Kramnik. Sieben Jahre zuvor hatte er die Schach-Welt gespalten und den Titel in Eigenregie vermarktet. Kramnik wollte ihm ohne Qualifikationsteilnahme kein Revanche-Match geben. An die FIDE hatte sich Kasparow zwar zwischenzeitlich angenähert, das geplante Duell mit deren Champion Kasimdschanow platzte jedoch mangels eines Geldgebers. Mit ein Grund für Kasparows Abschied.
Altersweisheit scheint das an den Haaren völlig ergraute Genie ergriffen zu haben. Laut dem englischen Schachportal "The week in chess" schreibt sich der ungeliebte Kasparow "die große Krise in der Schach-Welt" selbst zu und übernimmt "im Gegensatz zu anderen, die stets nach Ausreden suchen, die Verantwortung für all die Fehler. Ich hoffe, dass mein Abschied dazu beiträgt, dass die Schach-Welt wieder in ruhiges Fahrwasser gerät. Ich fühle, dass ich nicht mehr dazugehöre".
Der 41-Jährige will nun zunächst die Bestseller-Buchreihe über seine zwölf Vorgänger auf dem WM-Thron beenden (zur Rezension von Band 1). Zudem gedenkt sich der in seiner Heimat populärste Schachspieler in der russischen Politik zu engagieren. "Ich glaube, jede anständige Person muss Widerstand gegen Diktator Wladimir Putin leisten", äußerte Kasparow, bevor ihn wieder Sentimentalität ob der alten Bilder in der Hotel-Lobby, die ihn 1990 in Linares mit pechschwarzen Haaren zeigen, ergriff: "Ich wollte mich mit Stil verabschieden und mir nochmals selbst beweisen, dass ich besser als die anderen spiele." Beides ist Garri Kasparow in seinem Wohnzimmer gelungen.
Nachstehend Kasparows letzte Gewinnpartie im Turnierschach. Den Briten Michael Adams nahm der beste Spieler aller Zeiten mit Schwarz regelrecht auseinander - wie so viele Gegner zuvor auch.