Alter Wein in neuen Schläuchen Solide Mittelspiel-Lektionen eines erfahrenen Trainers von Peter Oppitz, Oktober 2003 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
Gambit 2003
ISBN 1-901983-93-5; 176 Seiten; etwa 22 Euro
Sprache: Intermediate Englisch
Bewertung des Rezensenten:
Der Autor Großmeister Valeri Beim (Jahrgang 1950) stammt aus dem ukrainischen Odessa, lebt nun in Österreich, steht aktuell mit ELO 2518 zu Buche und spielt in der deutschen Bundesliga für den TV Tegernsee. Im Jahr 2002 erschienen von ihm bereits die Bücher "Understanding the Leningrad Dutch" und "Chess Recipes from the Grandmaster´s Kitchen". Als Trainer kann er auf eine langjährige Erfahrung verweisen.
Sein neues Buch "Lessons in Chess Strategy" versteht sich ausdrücklich als Folgeband zu den "Rezepten aus der Großmeisterküche" und erscheint in bewährter großformatiger Gambit-Aufmachung mit dem schlichten, doch klaren Schriftbild und vielen großen Diagrammen. In 9 Kapiteln bietet Beim wiederum Lektionen zu ausgewählten Themen der traditionellen Mittelspieltheorie. An die ausführliche Besprechung der Partie-Beispiele und Studien schließen sich jeweils 12 - 20 unkommentierte Diagramme der Übungsaufgaben zur Selbstbearbeitung an, deren Lösungen auf den letzten 40 Seiten des Buches zu finden sind.
Bei der ersten Durchsicht des benutzten Materials fällt die große Zahl von allzu bekannten Klassikern der Schachgeschichte ins Auge. Den Sturmsieg von Morphy in der Pariser Oper von 1858 möchte man eigentlich in einem Buch für Fortgeschrittene nicht mehr sehen, und die Glanzpartien wie Rotlewi-Rubinstein, Lodz 1907/8, die "unsterbliche Zugzwangpartie" Sämisch-Nimzowitsch, Kopenhagen 1923, viele Evergreens aus den Turnieren von St. Petersburg 1914, New York 1927 oder Zürich 1953 und reichlich Weltmeisterschafts-Kämpfen sind vielerorts kommentiert worden und sollten fast allen Schachfreunden vertraut sein. Jüngstes zitiertes Beispiel ist Kramnik-Anand aus Dortmund 2001, nur eine einzige Partie stammt aus der großmeisterlichen Praxis des Autors. Bei den Übungsaufgaben macht diese Bekanntheit dann schon das eine oder andere Mal den Trainingseffekt zunichte, wenn der versierte Leser bei Ansicht des Diagrammes nur: "Ah, Fischer-Mjagmasuren, IZT Sousse 1967!" ausruft und ohne weiteres Nachdenken den Lösungszug Dxh7+ hinausschleudert.
Andererseits: Warum nicht auf bewährte Meilensteine der Schachgeschichte und die hohe Qualität der Anmerkungen der Koriphäen zurückgreifen? Ehrlicherweise vermerkt Beim jeweils ausdrücklich, wenn Kommentare und Varianten von Aljechin, Capablanca, Botwinnik oder Kramnik zitiert werden, und legt bei den Kommentaren und Zitaten das Schwergewicht jeweils nur auf die für das Kapitel-Thema relevanten Partieabschnitte. Teilweise geht er sogar kritisch mit den berühmten Kommentatoren ins Gericht und korrigiert sie. Daran merkt man, daß das präsentierte Material (wie auch in den hochgelobten Lektionen des Mark Dworetski) offenbar bereits in vielen Trainings-Sitzungen durchgearbeitet und bewährt ist.
Hier ein Beispiel, das durch das vieldiskutierte Erscheinen von Kasparows Buchreihe über seine Vorgänger Aktualität erhält. Beim setzt sich kritisch mit Kasparows Analysen auseinander, die über die Artikelserie in der "WELT am Sonntag" und die Weltmeister-Reihe im ChessBase-Magazin auf die Megabase gelangten und auch die Grundlage für "My Great Predecessors" bilden:
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Steinitz,W - Lasker,E [D35]
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Ist das erste Buch-Kapitel mit dem Titel "Die Geometrie des Schachbretts" noch eher taktischen Motiven und dem Reti-Manöver im Bauernendspiel gewidmet, so behandeln die folgenden Abschnitte traditionelle Mittelspiel-Themen wie "Die Schwerfiguren", "Der isolierte Damen-Bauer", "Der zentrale Freibauer", "Der Raumvorteil", "Das Läuferpaar" und "Symmetrische Bauernstrukturen". Ähnliches ist bekannt aus den älteren Mittelspiel-Standard-Werken von Euwe, Pachman oder Koblenz. Beim versieht die Beispiel-Partien mit genügend verbalen Erläuterungen zu Strukturen, Plänen und Manövern. Besonderes didaktisches Gewicht legt er auf die Hervorhebung typischer Verfahren und Prinzipien. Der Text ist durchzogen von vielen - teilweise kursiv hervorgehobenen - Regeln und Merksätzen wie "Das Einleiten eines Königsangriffs ist eines der wichtigsten Prinzipien in Positionen mit Schwerfiguren." (S.24), "Je weniger Leichtfiguren auf dem Brett sind, desto schwerer wird es, die Stärken eines Raumvorteils umzusetzen."(S.36) oder "Damentausch begünstigt fast immer die Seite, die gegen den Isolani spielt." (S.36). Für den starken Meister mögen diese Lehrbuch-Weisheiten altvertraut und elementar sein, und John Watson relativiert sie neuerdings in seinen Büchern wiederum für das Spiel auf höchster Ebene, für den lernenden Schach-Schüler sind sie jedoch zweifellos wichtige Orientierungspunkte.
Im Vorwort verweist Beim darauf, daß er seine Schüler und Leser hauptsächlich zum selbständigen Denken anregen will, und lenkt besonderes Augenmerk auf die Kapitel 6 : "Zugzwang" und Kapitel 9 : "Statische und dynamische Merkmale", die seiner Ansicht nach in der bisherigen Schachliteratur noch nicht in dieser Ausführlichkeit gewürdigt worden sind.
Zum Thema Zugzwang finden sich erfreulich viele einprägsame Studien, da diese Situationen häufig in Bauern-, Springer- oder gleichfarbigen Läufer-Endspielen entstehen. Ausgiebig wird erläutert, daß Zugzwang oft entsteht, wenn Figuren in ihren Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt oder bei der Bewachung wichtiger Felder überladen sind. Für die erfolgreiche Ausnutzung solcher Situationen empfiehlt Beim, bei der Variantenberechnung vom Ende wieder zum Anfang zurückzurechnen. Oftmals ergibt sich der Lösungszug als Korrektur einer schon berechneten Variante. Er nennt einen solchen Korrekturzug einen "resultierenden Zug" und widerspricht mit diesem "inversen Denken" - ohne es explizit zu nennen - klar der von Alexander Kotow in seinem Buch "Denke wie ein Großmeister" und der russischen Schachschule jahrzehntelang gepredigten Technik der Kandidatenzüge und des geradlinigen Variantenbaums.
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Bron - (Studie)
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Unter statischen Stellungsmerkmalen versteht Beim langfristig andauernde Elemente wie Materialverhältnis, Bauernstruktur oder Königssicherheit im Gegensatz zu kurzfristig auftretenden dynamischen Aspekten wie Entwicklungsvorsprung und Initiative. Anhand vieler Beispiele wird besonders erläutert, wie man die statischen Vorteile realisiert. Dazu gehören das Zurückdrängen gegnerischer Initiative nach Materialgewinn, Abwicklung ins vorteilhafte Endspiel bei besserer Bauernstellung oder ausgesperrten Figuren, positionelle Bauern- oder Qualitätsopfer und Prophylaxe. Als Positionsspieler kann Beim hier auf reichlich Musterpartien der vom ihm bewunderten großen Techniker wie Capablanca, Rubinstein, Petrosjan, Karpow oder Anand zurückgreifen.
Mit diesen Untersuchungen erhält der Band über den allgemeinen Lehrcharakter hinaus auch eine hinreichend eigenständige und individuelle Note. Das Material ist allgemein gut ausgewählt, ausführlich und lehrreich erläutert und illustriert die jeweiligen Thesen anschaulich. Die Lösungen zu den insgesamt 124 Übungsaufgaben werden jeweils von längeren Situations-Erläuterungen eingeleitet, bevor nach dem zu findenden Zug oder Manöver oft noch ein längerer Partiefortgang mit weiteren Pointen folgt. Hierbei wird allerdings eine gewisse taktische Sattelfestigkeit beim Leser vorausgesetzt.
Ein Beispiel einer solchen Aufgabe zur symmetrischen Bauernverteilung:
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Kramnik - Cifuentes
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Wie üblich beim Gambit-Verlag rundet ein Index von Spielern, Studienkomponisten und Eröffnungen den Band ab. Leider fehlt ein Literaturverzeichnis, denn offenkundig hat Beim neben der Megabase-CD und dem Informator auch viele klassische Turnierbücher und Autobiografien als Quellen benutzt.
Fazit: "Lessons in Chess Strategy" revolutioniert nicht gerade die Theorie des Mittelspiels und lüftet auch keine bislang unbekannten Geheimnisse, läßt sich aber angenehm lesen. Das solide Werk bietet ausführliche und modern aufbereitete Lektionen mit verständlich erläuterten Beispielen von anerkannter Qualität zu zeitlos aktuellen Mittelspiel-Elementen, von denen der Leser in seiner Spielstärke bestimmt profitieren kann. Empfohlen werden kann das Buch Spielern mit DWZ 1800 - 2300 zum Selbststudium, und auch für Übungsleiter ist es durch die praktische Kapitel-Einteilung für die Arbeit mit fortgeschrittenen Schülern gut geeignet.
Das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung.