Das "Jahrhundertwerk" im Test Garri Kasparow: Meine großen Vorkämpfer von Robert Miklos, Oktober 2003 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
Edition Olms
2003
ISBN 3-283-00470-6
246 Seiten; 29,90 Euro
Bewertung des Rezensenten:
Der dreizehnte Weltmeister Garri Kasparow hat sich vorgenommen, eine Buchreihe über seine Vorkämpfer um die Schachkrone zu schreiben. Dabei präsentiert er nicht nur die Weltmeister sondern auch andere Schachpersönlichkeiten der Zeit (vor Steinitz gab es keinen offiziellen Weltmeister, auch danach hatten viele Spieler großen Einfluss auf das Schach aber keinen WM-Titel). In englischer Sprache wird es drei Bände geben, die deutsche Ausgabe von Olms wird fünf Bände haben. Der erste Band der deutschen Version behandelt die zwei Weltmeister Wilhelm Steinitz und Emanuel Lasker, ihre Zeitgenossen (Zukertort, Tschigorin, Pillsbury, Marshall, Tarrasch, Schlechter, Rubinstein) und die großen Schachspieler davor (vor allem Greco, Philidor, Anderssen, Morphy).
In der kurzen Zeit seit Erscheinen des ersten Bandes (in englischer und kurz danach in deutscher Sprache) gab es viel Werbung und bereits etliche Rezensionen dazu, der Tenor war in etwa "ein großes Werk mit kleinen Ungereimtheiten". Der Text auf der Rückseite weckt mal wieder ein bisschen zu große Hoffnungen: "Sein im wahrsten Sinne des Wortes Jahrhundertwerk hält, was es verspricht, denn es erzählt unglaublich originell vom Schicksal der großen Schachmeister ..." Dabei bietet das Werk eben biografisch nichts Neues, die alten Klischees werden aufgewärmt (die Schachmaschine Capablanca oder Laskers psychologisches Spiel), es gibt auch etliche Zitate zu Stellungen oder Personen - also wenig Raum für Originalität. Nicht, dass es keine originellen Abschnitte gibt, die Betrachtung der Weltmeister als Kinder ihrer Zeit ist originell - aber zurecht umstritten. Die kleinen Geschichten über die früheren Schachmeister sind lesenswert (man darf gespannt sein, was er in den nächsten Bänden zu denen schreibt, die er selbst kennt und/oder nicht mag), sie sind nämlich aus der Sicht des 13. Weltmeisters geschrieben, da gibt es schon mal kleine Sticheleien in Richtung Schachorganisation, FIDE-Präsident oder Turniereinladungen.
Der eigentliche Star des Buches ist ganz klar Garri Kasparow (überall Kasparow-Fotos). Der erste Co-Autor, der Schachjournalist Dmitri Plisetzki, wird nur am Buchende kurz vorgestellt, der zweite Co-Autor gar nicht - es ist der mittlerweile allgegenwärtige Computer, der "seelenlose" Fritz (Seite 238); es wäre ja schon interessant gewesen zu erfahren, welche Hardware Garri so benutzt, wie er die Schach-Engines einsetzt, welche Meinung er von deren Spielstärke hat und viele andere Fragen, die Fans der Schachprogramme so haben. Ein bisschen Hoffnung macht mir in dieser Hinsicht der vorletzte Abschnitt der Einführung: "Uns erwartet eine großartige Sammlung von Meisterwerken der besten Schachspieler alle Zeiten. Daneben werden die neusten, mikroskopisch exakt analysierenden Computerprogramme vorgestellt, was zu einer Vielzahl von überraschenden Entdeckungen und Erkenntnissen führen wird". Vielleicht im letzten Band.
Das Thema "Meisterwerke der besten Schachspieler" ist sehr beliebt, über die stärksten Schachspieler gibt es viele Publikationen. Genauso wurden die wichtigsten Partien um die Schachkrone und sonstige bemerkenswerte Begegnungen bereits sehr oft präsentiert und analysiert. Auch die Idee, die besten Schachspieler mit ihren interessantesten Partien chronologisch zu präsentieren ist nicht gerade neu. Die jetztigen Partiekommentare haben schon eine kleine Geschichte hinter sich (11 der 73 Partien sind auch in der MegaBase03 von ChessBase dabei, die Kommentare im Buch sind ausführlicher): Sie erschienen zuerst in der "Welt am Sonntag", danach in der russischen Zeitung "Sport Express". Befreit von den Fesseln der Platzbeschränkung darf sich Garri nun austoben, manche Partiekommentare gehen über viele Seiten.
Trotzdem gibt es nicht unendlich viel Platz. Es wird ein bisschen mit Diagrammen gegeizt, nur am Buch lassen sich die meisten Partien nicht nachvollziehen, zumindest nicht von Ungeübten. Auf Seite 213 geht es um Rubinsteins Endspielkunst, zwei interessante Stellungen werden nur beschrieben, Diagramme hätten da gut hingepasst. Dem Hinweis auf Marshalls Dg3-Zug, einem der wohl schönsten Schachzüge überhaupt, hätte ein bisschen visuelle Unterstützung auch gutgetan. Schließlich sollen das Buch nicht nur Schachprofis lesen, so wünscht es sich Kasparow im letzten Satz der Einführung ("Außerdem wünsche ich mir, dass nicht nur Profis und interessierte Hobbyspieler mein Buch lesen werden, sondern auch all jene, denen es bisher noch nicht gelungen ist, eine Leidenschaft für dieses traditionsreiche, wahrhaft königliche Spiel zu entwickeln."). Mit was kann man am besten für Schach werben wenn nicht mit den schönsten Zügen? Ab und zu sind auch die Partiekommentare im Platz sparenden Telegramm-Stil, aus nur einem Zug bestehend (z.B. öfter in der Eröffnungsphase von Lasker - Bauer auf Seite 128 oder bei Lasker - Steinitz auf Seite 123). |
Lewitski - Marshall |
Lasker-Steinitz 1896 |
In den Kommentaren dieser Partie schreibt Kasparow: "Die Stellung ist ein Diagramm wert, denn wo findet man sonst noch eine derartige Figurenanordnung in der h-Linie?!" Und der Leser muss die Antwort suchen (in 52 Partien der MegaBase03 hat Weiß auf der h-Linie mindestens 5 Steine gegen 2 schwarze, in 4 davon ist das Verhältnis sogar 6:2). Gleich danach wird der Leser nochmals alleine gelassen, dieses Mal ist das aber kein rhetorischer Kniff: Lasker hat damals Lf3 gespielt, Kasparow kommentiert den Zug mit "?!" und präsentiert Sg6!?, dessen Widerlegung der Computer in "wenigen Sekunden" findet. Hier (mal abgesehen von der offensichtlich ungenauen Zugbewertung - oder soll das ein Rätsel sein und der Leser muss den besten Zug finden, dann tippe ich nämlich auf Sg3) und auch an einigen anderen Stellen hätte ich von einem der besten Taktiker und Angriffsspieler aller Zeiten ein bisschen mehr erwartet als nur den Hinweis auf Genosse Computer - das kann ja auch ein Patzer mit einem guten Schachprogramm. Auch sonst sind die vielen Varianten oft Werk der Schachprogramme oder solche, die eine moderne Engine findet. Vom Jahrhundertwerk erwartet man doch auch Jahrhundertzüge, vom besten Schachspieler aller Zeiten Geniestreiche. Ein anderes Charakteristikum sind die aus Vorgängerwerken zitierten Partiekommentare, davon gibt es leider sehr viele. Wo nötig präzisiert oder korrigiert Kasparow - eine Ausnahme fand ich bei der Partie Tarrasch-Gunsberg, in der er auf ein mögliches Matt in einer von Tarrasch angegebenen Variante nicht hinweist. Andere Rezensenten haben auch noch einige andere Analyse-Fehler gefunden. |
Hier eine Partie, bei der mir zwei Ungenauigkeiten auffielen, die Partie ist natürlich viel ausführlicher kommentiert als hier wiedergegeben:
Auf der ChessBase-CD über Paul Morphy wird die Partie Bird-Morphy (London 1858) besonders ausführlich kommentiert, Kasparows Kommentare sind deutlich kürzer. Wichtiger ist aber, er widerspricht in einer wichtigen Variante dem deutschen Großmeister Karsten Müller. Wer hat denn nun Recht? Die Müller-Kommentare erschienen auf der Internetseite von ChessCafe, er bekam viele Rückmeldungen, jetzt ruft er sogar auf der englischen Seite von ChessBase die Surfer auf, zur Wahrheit über die Stellung beizutragen.
Die betrachteten Partien (nicht alle werden vollständig vorgestellt) sind trotz dieser Einwände sehr gut kommentiert, im Großen und Ganzen besser als in den bisherigen vergleichbaren Werken. Hier gelten aber andere Ansprüche, nicht nur wegen der vielen Werbung: Wahls plaudert auf Seite 118 in seinem Skandinavisch-Buch über "ausanalysierbare Stellungen", mit Kasparow als Vorreiter - und das in einer Eröffnungsstellung, was macht die Analysemaschine erst mit Mittelspiel- und Endspielstellungen? Auch sonstige Geschichten über die Komplexität der Analysen und überhaupt die taktischen Fähigkeiten des "Monsters mit tausend Augen" ließen eher ein Werk erwarten, das einem Robert Hübner Respekt einflößen könnte. Diesen Erwartungen wird das Werk nicht gerecht.
Die Partiezüge sind fett gedruckt, die Analysevarianten und Kommentare normal, alles in gleichmäßig großer Schrift. Bei komplizierten Varianten ist es schwer, den Überblick zu behalten; für das Jahrhundertwerk hätte man vielleicht mal mutig sein und vom Jahrzehnte alten Design mal abweichen sollen. Ein Beispiel für ein Variantengestrüpp ist auf Seite 186 zu finden: Abgesehen von der Unübersichtlichkeit haben sich hier noch ein paar Ungenauigkeiten eingeschlichen (es sind einige Punkte zuviel, dann noch ein Tippfehler: statt "62.gxf6 Tg7" sollte es "62.fxg6 Tg7" heißen). Auch sonst haben andere Rezensenten noch einige Tippfehler und ähnliche Ungenauigkeiten gefunden.
Ein perfektes Buch mit mehr Diagrammen und größerer Übersicht (ansonsten ist äußerlich alles bestens!), vielleicht sogar in Farbe, was hätte das wohl gekostet? Der Preis des Bandes ist sowieso ein Thema: Die drei englischen Bücher kosten je 40 Euro, die fünf deutschen je 30 Euro (das zweite laut neuesten Angaben anscheinend 40). Im Gegensatz zur englischen Ausgabe bietet die deutsche Version noch eine Begleit-CD. Die Partien auf der CD stammen aus der BigBase03 von ChessBase, sie sind unkommentiert. Von Paul Morphy gibt es dieselben 299 Partien, während die kürzlich erschienene Morphy-CD (auch von ChessBase) über 450 präsentiert. Ein Fehler ist, dass nicht alle im Buch präsentierten Partien darauf sind - logisch, denn auf der CD steht, dass sie die "kompletten Partien" von Steinitz, Lasker, Philidor, de La Bourdonnais, Staunton, Anderssen und Morphy enthält. Die zweite Garde wie z.B. Tarrasch geht fast leer aus (nur 35 Partien in der Datenbank, aus seinen Begegnungen mit den zwei ersten Weltmeistern; die Mega03 kennt hingegen 758 Tarrasch-Partien) - dabei werden im Buch mehr Partien von Tarrasch (19) kommentiert als von Steinitz (16). Neben der Datenbank enthält die CD noch fünf Videos vom August 2001, in denen Garri seine Vorstellungen über das Werk erklärt (unter anderem erwähnenswert, dass Garri ein Buch über seine besten Partien schreiben will).
Fazit: Kein Jahrhundertwerk, eher solide Kost mit einigen Analyse-Glanzlichtern, deswegen ein bisschen zu teuer. Für jeden ist etwas dabei, die Hobbyspieler werden sich über die Geschichtchen freuen, die Fortgeschrittenen über die vielen Analysen - oder auch umgekehrt, auch wenn beide Themenbereiche nicht fehlerfrei sind.
Eine zweite Meinung: Rezension von FM Hartmut Metz.
Das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung.