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Augen auf

Schachbücher, wie man sie sich wünscht

Rezension von Harald Fietz, Juni 2004

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mehr Rezensionen in der Test

 

   Man kann dem Londoner Gambit-Verlag nur gratulieren, dass es wieder und wieder gelingt, neue Autoren zu erwischen, die einfache wie komplexe Zusammenhänge des Schachspiel auszuloten und zu erklären wissen (z.B. Dorian Rogozenko, und Igor Stohl, beide mit Rezensionen auf der Test). Wenngleich das Marketing mit heischenden Buchtiteln bisweilen seltsame Blühten treibt, der Inhalt überzeugt meistens. Und das für eine Spielstärkenbandbreite, die bei drei Neuerscheinungen von DWZ 1400 bis 2400 reicht. Jeder bekommt etwas für seine Schwerpunkte, wird aber auch aus den anderen Bänden etwas an Erkenntnis ziehen können. Bis zum guten Vereinsspielerniveau bedarf es der soliden Eröffnungsauswahl, beim Heranpirschen an einen internationalen Meistertitel der richtigen Schlussfolgerungen aus Wettkampfpartien und für alle - auch gestandene Profis - ist die Kunst von Verteidigung und Gegenangriff ein ewiges Thema.

 

Steve Giddins: Aufbau eines Eröffnungsrepertoires

Gambit 2004
ISBN 1-904600-10-7
160 Seiten; 19,95 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

Suchen und Versuchung

   Die Qual, passende Eröffnungen zu finden, beschäftigt jeden Schachspieler seit seinen ersten Partien und manchen lässt die Suche zeitlebens nicht los. Der englische FM Steve Giddins bietet hierzu unter dem schlichten Titel "Der Aufbau eines Eröffnungsrepertoires" weniger ein nach Eröffnungssystemen geordnetes Kompendium als vielmehr ein praxisnahes Philosophieren über Voraussetzungen, Ansätze, Entscheidungen und Vorbilder, mit denen man sein eigenes Eröffnungsprofil gestalten kann. Die Themenpalette stellt auf den Orientierung suchenden Amateur ab: Was passt zu welchem Stil? Breites oder enges Repertoire anwenden? Eher Haupt- oder besser Nebenvarianten lernen? Was bewirken Zugreihenfolgen und Zugumstellungen? Wo helfen Datenbanken und wo "lügen" sie? Sind spiegelverkehrte Aufbauten ein gutes Konzept? Oder welche Eröffnungswahl eignet sich in besonderen Turniersituationen (z.B. Spiel auf Remis)!

   Giddins, der Ende 1992 einige Zeit in Moskau bei dem bekannten Schachtrainer IM Igor Below studierte, liefert kein Patentrezept, argumentiert stets mit anschaulichen Beispielen Pro und Contra und hält aber mit seinen Präferenzen in Zusammenfassungen nach jedem Kapitel nicht hinter dem Berg. Zwei zentrale Statements lauten: Für Vereinsspieler taugt ein enges Repertoire eher, da ihre größte Schwäche im Verständnis der Mittelspielstrukturen liegt und sie viele Partien mit ähnlichen Strukturen anstreben sollen. Hauptvarianten sind besser, da diese genauer untersucht sind und zudem ermöglichen, zwischen Abspielen "zu springen". Selbst wer diese Haltung nicht teilen mag, kann zumindest versuchen, durch derartiges "Gedankenfutter" seine Einstellung zu überdenken. Besonders gelungen ist das letzte Kapitel, in dem die Eröffnungsauswahl verschiedener Profils skizziert wird (Bobby Fischer, Garry Kasparow, Anatoli Karpow, Wladimir Kramnik, Michael Adams, Michail Gurewitsch, Jewgeni Sweschnikow, Mark Hebden). Auch wenn nicht jede These von Giddins neu ist, werden Spieler bis DWZ 2000 nach der Lektüre gewiss zuversichtlichere Entscheidungen in der ersten Partiephase treffen.

  

James Rizzitano: Understanding your Chess

Gambit 2004
ISBN 1-904600-07-7
192 Seiten; 24,95 Euro
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

Lehren ziehen lernen

   Der amerikanische IM James Rizzitano zählt in Europa nicht gerade zu den bekannten Namen. Dennoch ähnelte die Schachkarriere des Spielers aus der Region New-England dem Nomadenleben vieler von Open zu Open ziehender Schachprofis der Gegenwart. Rizzitano frönte in der Zeit zwischen 1976 und 1989 extensiv dem Schachsport und gewann in dieser Zeit bei 336 Starts 157 Turniere. Selbst eine 14-jährige Abstinenz konnte den "Schachdämon" nicht vertreiben und so reflektierte der heute 43-Jährige - getreu dem Motto "aus eigenen Partien lernen" - mittels neuer Überprüfungsmöglichkeiten durch Computerprogramme und Endspielmodule, wie sich sein Werdegang vom Meisteranwärter zum IM vollzog. Hierzulande weitgehend unbekannte Begegnungen mit den Größen der amerikanischen Szene (Lev Alburt, Joel Benjamin, Larry Christiansen, Nick de Firmian, John Fedorowicz), anderen Top-Spielern der 80er Jahre (Anthony Miles, Jonathan Speelman) sowie Veteranen (Michail Tal, Bent Larsen) bilden Höhepunkte dieser Lebensbeichte der wilden Jahre.

   Herausgekommen ist ein Potpourri der Einsichten, welches insbesondere Spieler zwischen DWZ 1800 und 2300 ansprechend wird, die regelmäßig an Open- und Wochenendturnieren teilnehmen. 64 ausführlich analysierte Partien und 20 Endspiele werden - wie inzwischen bei mehreren Gambit-Produktionen zuvor - mit Zusammenfassungen (d. h. "Lektionen") versehen. Daneben enthalten die Kapiteleinführungen interessante Fragestellungen zu Eröffnungen (Repertoirebildung, Figurenaktivität, unerwartete Züge, Positionierung bei theoretischen Dauerduellen), Mittelspielen (Elemente der Initiative, Erfahrungen mit der Anhäufung kleiner Vorteile, taktisches Brückenabbrechen) und Endspielen (insbesondere Läufer-Springer- und Turm-Leichtfiguren-Konstellationen). Unter dem Strich viel Inspiration für Schachpraktiker.

 

Mihail Marin: Secrets of Chess Defence

Gambit 2003
ISBN 1-901983-91-9
176 Seiten; 24,95 Euro.
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

Verteidigung als Angriffschance

   Auch der rumänische Großmeister Mihail Marin ist schon lange aktiv (u. a. drei Siege bei Landesmeisterschaften und acht Olympiateilnahmen). Nachdem der 39-Jährige mehrere Jahre in seiner Heimat die Zeitschrift "Chess Extrapress" betreute und zwei vielgepriesene Eröffnungs-CDs bei ChessBase vorlegte, ist ihm mit seinem Bucherstling nun ebenfalls ein überdurchschnittliches Werk gelungen. Der Gegenstand seiner mit reichlich schachphilosophischen Betrachtungen unterfütterten Untersuchung ist das komplexe Thema der Verteidigung. Mit einem ausgewogen Mix aus klassischen, zeitgenössischen und eigenen Partien und Stellungen erläutert er die Entwicklung von Prinzipien, nach denen jeder Schachanhänger mehr oder weniger häufig fahndet. Den König als starke Figur einsetzen, eine Festung aufbauen, Pattressourcen erwägen, Dauerschach finden, Damen- und Qualitätsopfer bringen, zwei Leichtfiguren gegen Turm tauschen als konkrete Leitmotive; was ist eine Bedrohung, was bringt eine Vereinfachung, warum gab es eine zu frühe Aufgabe, wie verhält sich die Gleichgewichtsökonomie verschiedenen Figurenpaaren als allgemeine Maximen.

   Marin bietet aber mehr als das üblich Aufgabe-Lösung-Schema: Unter Einbeziehung vor allem des Gedankenguts von Wilhelm Steinitz und in der Auseinandersetzung mit dem Kanon russischsprachiger Literatur, aber auch eines der wichtigsten Gegenwartstheoretiker (John Watson), beleuchtet er Ursachen für gespielte oder verpasste Zugfolgen und wie diese mit bestimmten Einstellungen und Stilfragen zusammenhängen - psychologische Zusammenhänge und Abgleiche mit Computerresultaten oftmals beigegeben. Kurzum: Eines der fesselndsten Bücher zu einem zu Unrecht vernachlässigten Thema und Material für viele, lange Trainingsabende - oder einfach nur zur Erbauung über die unerschöpfliche "Seele" des Schachs.

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 11 / 2004, S. 298
die Rezensionsexemplare stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung.


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