Legendäre Schachtitanen in neuen Gewändern Jan Timman: Curacao 1962 Rezension von Harald Fietz, November 2005 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
New in Chess 2005
ISBN 90-5691-139-2
224 Seiten; 22,95 Euro
Bewertung des Rezensenten:
Wie anders sah die Welt 1962 aus, als in Curacao das skandalträchtige Kandidatenturnier stattfand: Die Supermächte und der Globus schrammten auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs im Zuge der Kuba-Krise wegen der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen knapp an einer militärischen Auseinandersetzung vorbei, in Südafrika wurde Nelson Mandela für später insgesamt 28 Jahre inhaftiert, in Chile gewann Brasilien zum zweiten Mal die Fußballweltmeisterschaft, in Europa standen die Beatles und die Rolling Stones am Beginn von Weltkarrieren in der Rockmusik und in Westdeutschland sollte es erst fünf Jahre später Farbfernsehen geben. Damals zogen sich acht der weltbesten Denksportler für zwei Monate zu 28 Runden auf ein niederländisches Eiland in die brütende Hitze der Karibik vor die Küste von Venezuela zurück.
Man traf sich allerdings nur scheinbar zum friedlichen Wettstreit; trägt das Turnierbuch von heute doch berechtigterweise den Untertitel Der Kampf der Gehirne, welcher die Schachwelt schockierte. Es erstaunt, dass es über dieses Gipfeltreffen bisher nur ein weitgehend unbekanntes, spanischsprachiges Buch in Argentinien gab. Dabei handelte es sich um ein in vielfacher Hinsicht außergewöhnliches Turnier. Schon die Besetzung bürgte dafür: Tigran Petrosjan, Mihail Tal, Paul Keres, Viktor Kortschnoi, Efim Geller, Bobby Fischer, Pal Benkö und Miroslav Filip. Jan Timman beleuchtete über vier Jahrzehnten später das Geschehen auf und neben dem Brett. Herausgekommen ist eine schachdidaktische Reminiszenz und zugleich eine Chronologie der Machenschaften beim Streben um die höchste Krone im königlichen Spiel. Warum ist dies für den Schachfreund der Gegenwart von Interesse?
Es bietet ein Lehrstück über Machenschaften im Turnierschach: Nicht umsonst wurde das Kandidatenturnier danach - insbesondere auf öffentlichen Druck Fischers - abgeschafft. Timman erhellt die Zusammenhänge und Hintergründe des Netzwerks Petrosjan-Geller-Keres, bei dessen Klüngeleien nicht nur der Amerikaner sondern auch Kortschnoi und der gesundheitlich angeschlagene Tal auf der Strecke blieben. Spezifische Aspekte des Turnierrhythmus, der Unterstützung durch das Umfeld (beim Sieger Petrosjan insbesondere durch seine allgegenwärtige Frau Rona) und durch den Tabellenstand motivierte Züge lassen sich eben nur in der Gesamtschau erschließen.
Daneben nimmt Timman das Treffen der Hochkaräter auch aus dem Blickwinkel der Entwicklung der Eröffnungstheorie unter die Lupe. Ein anschauliches Beispiel für die relative Langsamkeit der Entdeckungen im Zeitalter ohne Computer bietet die folgende sizilianische Variante:
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Keres,P - Benkö,P [B35]
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Auch in Sachen Mittelspiel weiß Timman den Spagat zwischen zeitgenössischen Analysen und neuen, computerassistiertem Fazit zu meistern. Ein Spotlight verdeutlicht dies beispielhaft:
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Tal,M - Benkö,P [C13]
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In Sachen Endspiel gibt es u.a. aus der Kategorie Guter Springer gegen schlechter Läufer anhand der Partie Benkö-Kortschnoi ein umfangreiches Highlight. Endspielfreunde, die bereits Timmans Power Chess with Pieces genossen haben, wird dieser Nachschub freuen.
Unter dem Strich bleibt eine lohnenswerte Neuinterpretation von Bekannten - sowohl einfach zum Genießen oder zum Lernen zu gebrauchen: Timman haucht auf instruktive Art einem bedeutenden Herzschlag der Schachgeschichte neues Leben ein - viele unbekannte Fotos aus den Archiven der Organisatoren gibt es obendrein!
die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 15/2005,
S.410
das Buch stellte Schach
Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) für die Rezension zur
Verfügung