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Die französischen Schiedsmänner sind wieder da

Bücher zur Französischen Verteidigung

Rezension von Harald Fietz, Juli 2004

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Lev Psakhis: Advance and other Anti-French Variations

Batsford 2003
ISBN 0-7134-8843-3
160 Seiten; 23,40 Euro
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

  

Lev Psakhis: French Defence 3.Nd2

Batsford 2003
ISBN 0-7134-8825-5
288 Seiten; 24,95 Euro
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

 

Lev Psakhis: French Defence 3.Nc3 Bb4

Batsford 2003
ISBN 0-7134-8842-7
256 Seiten; 24,95 Euro
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

 

John Watson: Play the French

Everyman 2003 (3. überarbeitete Auflage)
ISBN 1-85744-337-3
272 Seiten; 26,50 Euro
Sprache: Intermediate English

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

 

Wolfgang Uhlmann: Ein Leben lang Französisch

Beyer Verlag 2004 (2. überarbeitete Auflage)
ISBN 3-88805-271-8
194 Seiten; 16,80 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

 

   Es geht selten um Hochachtung, wenn man eine Person nur mit Nachnamen erwähnt. Aber wer über DIE Monroe oder DIE Callas spricht, der lässt unwillkürlich Bewunderung für künstlerisches Schaffen mitschwingen. Solcher Respekt gebührt Lev Psakhis, John Watson und Wolfgang Uhlmann, wenn es um die Französische Eröffnung geht. Ihre Referenzwerke aus den 90er Jahren haben sie jetzt in stark überarbeiteten Fassungen vorgelegt. Herausgekommen sind Bände, die nicht nur Material zusammentragen, strukturieren und irgendwo Bewertungen platzieren, sondern die hohen Wert auf Erläuterungen, persönliche Sichtweisen und - besonders im Fall von Watson - auch Einblicke in Austauschformen wichtiger Französisch-Theoretiker geben. Über wohl keine Eröffnung ist derzeit über so viel geballte Kompetenz veröffentlicht. Und beide Farben werden in den "Eröffnungsbibeln" gut bedient: DER Psakhis bietet eine Gesamtschau, DER Watson ein klassisches Repertoirebuch aus schwarzer Warte und DER Uhlmann eine erweiterte und durchgesehene Revue der besten Leistungen in seinen Spezialvarianten. Es gibt triftige Gründe, warum diese Werke Kultstatus besitzen.

 

Konzentration und Kommunikation

   Ein guter Schachspieler zu sein, heißt noch lange nicht, ein gutes Eröffnungsbuch schreiben zu können. Kompetenz in diesem Genre bedeutet, den ausufernden Informationsquellen Zuschnitt zu geben und dem Wissbegierigen den Stellenwert von Varianten und Abspielen verständlich zu machen. Psakhis, Watson und Uhlmann gehen unterschiedliche Wege.

   Der gebürtige Russe, der die Eröffnung mit beiden Farben spielt, bleibt seinem Konzept der Vollständigkeit treu. Doch was 1992 in "The Complete French" noch auf 272 Seiten gepackt wurde, verlangte bisher nach drei Bänden. 160 Seiten für seltene weiße Optionen im zweiten Zug bzw. 2.d3, die Abtausch- und die Vorstoß-Variante, 288 Seiten für alles rund um den Tarraschzug 3.Sd2, d.h. im Informator-Code C03 bis C09 und 256 Seiten für die Winawer-Variante (C15 bis C18). Ausstehend, aber noch nicht angekündigt, sind die Klassische Variante, die Rubinstein- und Steinitz-Variante und MacCutcheon (C10 bis C14). Gegenüber dem alten Werk verwendet Psakhis weiterhin keine Systematik mit Nummern- und Buchstabenschlüsseln. Bisweilen ist es schwierig, in die Stammpartie zurückzufinden, da seitenlang Abspiele eingestreut werden. Doch dafür entschädigt der israelische Großmeister bei den neuen Bänden mit mehr Texterklärungen und fällt erfreulicherweise viele subjektive und kritische Urteile. Man sollte daher - um den Rahmen der jeweiligen Untersuchung zu erfassen - den betreffenden Abschnitt zunächst lesen und mit einem Marker Hinweise auf Verschiebungen der theoretischen Bewertung und neue taktische und strategische Ausrichtungen hervorheben. Hier wird schnell klar, dass in der letzten Dekade vernachlässigte Züge in Mode kamen (z.B. 3... Le7 im Tarrasch-System, die Abtauschvariante, Neuland im komplexen Winawer-System). Über Winawer mit 7.Dg4 0-0 legten Stefan Kindermann und Ulrich Dirr 2001 einen bahnbrechenden Band beim Chessgate-Verlag vor, welchen Psakhis scheinbar nicht zur Kenntnis nahm. Überhaupt fehlt bei ihm eine Bibliographie und der frühere Trainer von Judith Polgar schöpft ziemlich autark aus seinem Erfahrungsschatz.

   Anders spitzt Watson seine Erklärungen und Schlussfolgerungen zu, denn er will der schwarzen Fangemeinde ein möglichst aggressives Profil anlegen. Da ist er mit Psakhis auf einer Wellenlänge, denn der merkt ebenfalls an, dass diese Eröffnung nur durch "Missinterpretation" als Verteidigung charakterisiert werden kann. Der Amerikaner bietet für das Gewinnstreben des Nachziehenden auf 272 Seiten gegen jede Haupt- und Nebenvariante zwei oder drei gleichwertige Wege. Dadurch sollen unterschiedliche Spielstile bedient werden und - falls irgendwo, irgendwann ein Varianten-GAU stattfindet - ein Notszenario verfügbar sein. Auch Watsons Buch wandelte sich - obwohl die zweite Auflage nur sieben Jahre zurückliegt - gewaltig. Wie er im Vorwort ausführt wurden in den letzten zehn Jahren immerhin 6,75% aller Partien mit 1.e4 e6 begonnen (im Fernschach sogar 8,2%). Watsons Konzentration auf andere Varianten ist bei nun 15 statt 12 Kapiteln gravierend: Aus einem Abschnitt über die Vorstoßvariante wurden jetzt drei (28 Seiten vormals, 47 heute), als Mittel gegen den Tarrasch wurde zwar 3... c5 beibehalten, aber der gesamte, theorieintensive Bereich mit 3... Sf6 zugunsten des explosionsartig gestiegenen Interesses an Romanischins Patent mit 3.... Le7 (nun auf 20 Seiten) rausgenommen. Beim Winawer-System resümierte er - vor allem in der Auseinandersetzung mit den Analysen von Kindermann und Dirr - viele Neudeutungen. Das Kapitel mit 6... Dc7 erfuhr durch die Mitarbeit des norwegischen FM Hans Olav Lahlum neue Impulse, da dieser auch wenig bekanntes Partienmaterial aus dem skandinavischen Umfeld sichtete, in dem diese Zugfolge eine gewisse Popularität erlangte. Schließlich gibt es zwei neue Kapitel über die Klassische Variante (mit 4.e5 und mit 4.Lg5), die in der zweiten Auflage noch unberücksichtigt blieb.

   Als Grandseigneur unter den Anwälten des Franzosen geht es Wolfgang Uhlmann nicht darum, einen Theoriewälzer oder ein Repertoirebuch vorzulegen. Der Dresdner setzt vielmehr auf die erkenntnisfördernde Wirkung seiner besten Partien aus über einem halben Jahrhundert Praxis. Ein Jahr vor seinem 70. Geburtstag erweiterte die deutsche Schachlegende die frühere Partiensammlung von 60 auf 75 Partien. Welchen internationalen Stellenwert die 1991 erschiene Werkschau besaß, zeigte die für deutsche Schachbücher seltene Übersetzung ins Englische. In die Neubearbeitung investierte der elffache DDR-Meister nach eigenen Angaben über ein Jahr Arbeit. Beim Anwachsen von 126 auf 194 Seiten ging es dem elffachen Olympiadeteilnehmer aber nicht nur um eine Ergänzung mit Material aus den letzten zwölf Jahren, sondern auch neu eingefügte, ältere Partien erhalten neuen Glanz. "Französisch ist eine Sache des Vertrauens", bilanzierte der Veteran kürzlich bei einem Besuch der in Berlin ansässigen Lasker-Gesellschaft.

 

Wolfgang Uhlmann

"Französisch ist eine Sache des Vertrauens", heißt das Credo von Wolfgang Uhlmann, wenn er ein Highlight seiner Lieblingseröffnung demonstriert. Lev Psakhis und John Watson würden es bestimmt unterschreiben. Foto: Harald Fietz

 

   Aus seiner Warte bedeutete dies immer die Fokussierung auf bestimmte Abspiele, in die man tiefer und tiefer eindringen soll. Beim Tarrasch-System stellt er seine Magenvariante 3... c5 mit 27 Partien ausführlich vor (gegen den heutigen Trend nahm er auf 4.exd5 stets mit dem e-Bauern statt der Dame wieder). Der Zug 3... Sf6 kommt hingegen in nur vier Spielen bis in die 70er Jahre vor. Gegen die weiße Antwort 3.Sc3 zog Uhlmann zeitlebens in Nimzowitschs Sinn 3... Lb4. Insgesamt gibt es hierzu 30 Partien, wobei drei Begegnungen herausragen, weil Uhlmann hier auf Französisch-Experten traf, die diesmal auf der weißen Seite saßen. In die Brettdebatten mit Gerald Hertneck, Nigel Short und Vlastimil Hort flicht Uhlmann auf über zwölf Seiten eine intensive Auseinandersetzung mit dem Theoriestand bis 2003 ein. Dieser gänzlich neue Teil greift - unter Kenntnisnahme der Kindermann-Dirr-Arbeit - den Winawer-Komplex mit 7.Dg4 0-0 8.Ld3 auf. Schließlich kommen die restlichen weißen Optionen unter die Lupe (Einengungsvariante mit 3.e5 sechsmal, System mit königsindischer Anlehnung viermal, Abtauschvariante fünfmal und sonstige Abspiele viermal).

   Auch in ihrer Kommunikationsweise differieren die drei Autoren. Psakhis bürdete sich auf, über alle Varianten und Abspiele zu berichten. Notwendigerweise skizziert er auch weiße Erfolgswege. Angesichts dieser Abwägungen für beide Seiten wären Resümees nach jedem Kapitel hilfreich. Für einen Amateur ergeben sich nach den durchschnittlich 20- bis 30-seitigen Abschnitten so viele aneinandergereihte Ansichten, dass eine solche Navigationshilfe mehr Orientierung böte. Ohne Zweifel dienen seine Bücher eher den erfahrenden Spielern ab DWZ 2000. Watson hat es da leichter, denn als Fürsprecher "seiner" Varianten bleiben ihm die Erfolgsgeschichten, wie sich schwarze Gewinnstrategien entwickeln können. Doch es ist keineswegs ein Rosinenpicken dessen, was Schwarz ohnehin nicht in Bedrängnis bringt. Watsons Argumente bilden sich durch sorgfältige Benennung und Auseinandersetzung mit vielen - auch weniger benannten - Quellen. Er scheut sich nicht, hinzuweisen, wo die Remisbreite eher hoch ist bzw. wo riskante, ungeprüfte Optionen liegen. Dieses Herunterbrechen des gesamten französischen Komplexes geht an manchen Stellen mit einer größeren Variantentiefe einher, einerseits durch mehr eigenständige Analysen, anderseits durch den Abgleich mit den Einschätzungen anderer Autoren. Uhlmann vermittelt seine lehrreichen Hinweise notwendigerweise punktuell als Teil der Partienkommentierung. Da er zudem als Zeitzeuge der Schachentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftritt, bestechen seine Ausführungen nicht nur die prägnanten Ausführungen zu kritischen Stellen (z.B. wo das Figurenspiel gut oder schlecht war oder wo strategische Aspekte genutzt oder missachtet wurden), sondern verdeutlichen die Aufs und Abs der Abspiele. Das Nachvollziehen dieses ständigen Ringens kommuniziert nicht nur, wo und wie schlummernde Potentiale der Französischen Verteidigung entdeckt wurden und sich Einschätzungen wandelten, sondern bietet vielfältige Einblicke in die Prinzipien des Mittelspiels und teilweise des Endspiels. Diese Bilanzlegung eignet sich gerade für Spielklassen zwischen DWZ 1600 bis 2000, denn hier ist nicht nur bloßes Eröffnungswissen für das Verstehen gefragt.

 

Was für Wen?

   Unter dem Strich können sich Französisch-Interessierte jeder Farbe und Spielstärke derzeit nicht beklagen. Psakhis liefert - obwohl noch ein Band aussteht - insgesamt 644 engbedruckte Seiten. Diese zu beackern, dürfte eher etwas für Meisteranwärter und Profis sein. Wer sich allerdings dem Franzosen (oder einer bestimmten Variante mit Weiß) verschrieben hat, wird mit viel Arbeit Nutzen ziehen. Für Spieler unterhalb DWZ 1800 empfiehlt sich, vorab mit einer Einführung Vertrauen zu schöpfen (z.B. von Byron Jacobs "Starting out: the French" Everyman 2002, siehe Rezension vom März 2003). Watson hat nicht ohne Grund eine weltweite Anhängerschaft; seine Stärke ist die Schwerpunktsetzung (obwohl gewiss mancher eingefleischte Französischspieler es bedauern mag, dass die 3... Sf6-Variante im Tarrasch unter den Tisch fiel). Beim selektierten Material besticht der Amerikaner durch seine Systematik und kann deshalb auch für Vereinsspieler ohne große Mühe in überschaubaren Zeitkontingenten durchgearbeitet werden. Wer Französisch als Weißspieler öfter begegnet, sollte ruhig ebenfalls mehr als einen Blick riskieren. Uhlmann schließlich dürfte von klein bis groß und von DWZ 1500 bis 2500 anregen. Hier lernt man - neben der Spielkultur rund um die Eröffnung - insbesondere etwas über genaues Variantenkalkulieren. Zum Abschluss aber ein wenig Hoffnung für alle Anziehenden: Wie messerscharf selbst scheinbar gleiche Stellungen bisweilen wegkippen, erfuhr ausgerechnet Watsons Mitarbeiter Lahlum bei der im Mai ausgetragenen norwegischen Mannschaftsmeisterschaft ...

 










Elseth,R (2346) - Lahlum,H (2244) [C07]
Trondheim 2004

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 c5 4.exd5 Dxd5 [ Uhlmann schwört auf 4...exd5 , was Watson völlig außen vor lässt.] 5.Sgf3 cxd4 6.Lc4 Dd6 7.0-0 Sf6 8.Sb3 Sc6 9.Sbxd4 Sxd4 10.Sxd4 a6 11.c3 Dc7 12.De2 Ld6 13.h3 b6?! Neuland: Gespielt wurde bereits 13...b5, aber sowohl Watson als auch Psakhis bringen nur die kurze Rochade mit folgenden Einschätzungen: [ 13...0-0 14.Lg5 Se4 ( Psahkis erwähnt seinen Faux-Pas nach 14...b5? 15.Ld3 Lb7 16.Lxf6 gxf6 17.Dg4+ Kh8 18.Dh4 f5 19.Lxf5! mit Gewinnstellung in Rogic - Psahkis, Zagreb 1993.) 15.Lh4 ( 15.Dxe4 Beide zitieren 15...Dxc4 16.Lf4 Lxf4 17.Dxf4 Ld7 aus Palac - Keitlinghaus, Prag 1990 als Ausgleich.; Psakhis gibt 15.Le3 als Hauptvariante, kommt aber nach 15...b6 16.Ld3 Lb7 17.Tad1 Lh2+ 18.Kh1 Lf4 19.Tfe1 Sf6 20.c4 Tfd8 aus Liss - Zifroni, Israel (Mannschaftsmeisterschaft) 1999 ebenfalls zur Bewertung vom gleichen Spiel.) 15...Sd2 16.Dxd2 Dxc4 mit gleichem Spiel in Kosashvili - Holzke, Biel 1989. Watsons Gesamturteil: "Allgemein ist 11.c3 ein solider Zug, der nicht mehr als die Balance hält."] 14.Lg5 0-0 15.Lb3 Lb7 16.Tad1 Kh8 17.Lc2 Dc5 18.Lh4 De5 Vielleicht spielte Lahlum in der besonderen Kenntnis des gegenwärtigen Theoriestandes auf Damentausch, um die Remisbreite anzustreben. 19.Dxe5 Lxe5 20.Tfe1 Lc7 21.Lxf6 gxf6 22.Sxe6! Ein feines Opfer unter Ausnutzung der Wirkung der siebten Reihe. Computerprogramme sind binnen Sekunden dabei ... 22...fxe6 23.Td7 Tac8 24.Txe6 Tfd8 25.Txh7+ Kg8 26.Tee7 Td2 27.Lb3+ Ld5 28.Lxd5+ Txd5 29.Teg7+ Kf8 30.Txc7 Td1+ 31.Kh2 Txc7 32.Txc7 Td2 33.Tc6 Txb2 34.Txf6+ Kg7 35.Tc6 a5 36.f4 b5 37.Tb6 1-0

 

   Trotz des ergiebigen Literaturstandes ist die Französische Verteidigung immer wieder ein Abenteuer. Die Frage bleibt letztlich, ob man sich traut, sie - wie die Autoren - als eine schwarze Offensivwaffe zu interpretieren!

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 12 / 2004, S. 330/331
die englischen Bücher stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) zur Verfügung
das deutschsprachige Buch lieferte Joachim Beyer Verlag (Langgasse 25, 96142 Hollfeld)


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