Den Merkmalen des positionellen Schachs auf der Spur Drazen Marovic: Geheimnisse des positionellen Schachs Rezension von Janine Platzek, Juli 2005 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
GAMBIT Verlag 2004
ISBN 1-904600-13-1
240 Seiten; 27,50 Euro
Bewertung der Rezensentin:
Drazen Marovic, ein kroatischer Großmeister, der unter anderem die Nationalmannschaft seines Landes trainierte, beschäftigt sich im Buch "Geheimnisse des positionellen Schachs" sowohl mit Felderstärken und -schwächen als auch mit starken beziehungsweise schwachen Figuren. Ein Thema, von dem man als Vereinsspieler eigentlich nie genug wissen kann.
In seiner Einführung behauptet er, es handele sich um ein einfaches Thema, denn schließlich wisse doch jeder, was ein "schwaches Feld oder eine schwache Figur" sei. Er schiebt allerdings gleich hinterher, dass seine Erfahrungen im Schachtraining in völligem Gegensatz dazu stünden. Damit ist der Leser schon einmal "lecker gemacht", denn provokante Themen reizen zur Überprüfung. Viele kennen seiner Ansicht nach den Unterschied zwischen Stärken und Schwächen nur theoretisch, in der Praxis hapert es aber.
Oft genug ist es gemäß Marovic nicht offensichtlich, was stark und was schwach in der konkreten Stellung bedeutet. Der Autor macht es sich mit diesem Buch zur Aufgabe, dem Leser dieses Thema der Stärken und Schwächen und seine Bedeutung bewusst zu machen und ihm so zu helfen, in einer Schachpartie bewusster Unterscheidungen zu treffen. Bei der Auswahl des Materials kam es ihm vor allem auf die Klarheit der Ideen an und daher findet der Leser hauptsächlich Partien berühmter Spieler. Die Modellpartien reichen von Klassikern bis zur Gegenwart - er schöpft aus seinem langen Erfahrungsschatz, denn 1965 (!) führte er seinen Landsmann Bojan Kurajcia zum U20-Weltmeistertitel und mit Al Modiahki bildete er in den 1990er Jahren den ersten arabischen Großmeister aus.
Das Buch gliedert sich in zwei große Einheiten: Im ersten Teil geht es um die Stärken und Schwächen im Raum, im zweiten Teil um die Stärken und Schwächen der Schachfiguren. Dabei werden folgende Thematiken abgehandelt:
Teil 1: Stärke und Schwäche im Raum
1 Schwache und Starke Felder Teil 2: Schachfiguren: Ihre Stärken und ihre Schwächen
6 Der König
Index der Spieler |
Zu Beginn eines Kapitels findet der Leser eine kurze Einleitung, die ihn auf das Thema vorbereitet, an die sich zahlreiche kommentierte Partien anschließen. Sehr einfach und klar verständlich beschreibt Marovic beispielsweise das Problem der schwachen Felder, die die häufigste Form der Schwächen darstellen und als Folge eines jeden Fehlers, den wir am Schachbrett begehen, entstehen. Dabei weist er darauf hin, dass "schwach" beziehungsweise "stark" zwei Begriffe desselben Charakteristikums sind, abhängig davon, von welcher Seite des Brettes aus man die Stellung betrachtet. Bei solchen Erklärungen merkt man die Handschrift des erfahrenen Trainers.
Marovic skizziert zudem die schachgeschichtliche Entwicklung der Problematik von schwachen Feldern. Durch das gesamte Buch erfährt der Leser, wie er in einer Partie verfahren muss, um Schwächen beziehungsweise Stärken auszunutzen. Die Einleitungen zu Beginn eines Kapitels - aber vor allem die kommentierten Partien - sind mit grundsätzlichen Ideen, die ein Spieler bei der jeweiligen Stellung haben sollte, gespickt.
Beispielsweise erfährt der Leser, dass statische Schwächen irrelevant sind, solange ein aktiver Plan ausgeführt wird oder dass starke Felder (also schwache Felder des Gegners) mit starken Figuren besetzt werden müssen und dass der Gegner große Probleme haben wird, diese starken Figuren zu vertreiben. Damit die Schwächen des Gegners ein langfristiges Stellungsmerkmal bleiben, ist es wichtig, die Schwächen festzulegen und den Druck darauf zu erhöhen. Weitere Schwächen sollen provoziert werden, auch wenn man sie momentan noch nicht ausnutzen kann. Die Figuren des Gegners, die ein schwaches Feld überdecken, sollen abgetauscht werden, denn hinzukommt, dass die Schwäche umso deutlicher wird, je weniger Figuren sich auf dem Brett befinden. Dies sind nur einige der Grundsätze, die der Autor vermittelt. Vieles davon wiederholt sich im Verlauf des Buches, sodass man nichts überlesen kann. Im Anschluss an eine Partie zieht Marovic oft ein kurzes Resümee, in dem er noch einmal kurz zusammenfasst, wo die jeweilige Stärke oder Schwäche lag und wie daraus Kapital geschlagen wurde.
In dem folgenden Franzosen zeigt der Autor sehr schön, wie Gligoric das schwache Feld des Gegners, in diesem Fall c5, ausnutzte und dadurch langsam aber sicher den Gewinn einfuhr.
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Gligoric - Stahlberg [C09]
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Die ausgewählten Partien beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Eröffnungsrepertoire, sondern sind breit gefächert. Zu jeder der aufgeführten Eröffnungen nennt der Autor die entstehenden Felderstärken bzw. Felderschwächen (z.B. warum d4 und e5 starke schwarze Felder im Königsinder sind).
Positiv gefällt mir zudem, dass Marovic nicht einseitig vorgeht (also nicht nur durch die Siegerbrille schaut), sondern immer wieder mal die Perspektive wechselt und eine Stellung von der anderen Seite des Brettes beurteilt. Ebenso zeigt er nicht nur, wie "einfach" man durch starke Felder gewinnt, sondern wie schnell es gehen kann, dass man durch unentschlossenes Spiel den Vorteil wegwirft, was meist ein Remis bedeutet.
Marovic weist u.a. auf die Anfälligkeit der Schwäche der siebten bzw. der zweiten Reihe hin. Auch wenn noch keine taktischen Schläge möglich sind, so beschränkt ein Turm auf der siebten Reihe doch erheblich das gegnerische Spiel. Wie schon beim Besetzen der starken Felder durch starke Figuren verfährt der Autor nach dem Prinzip Tartakowers: "Die Drohung ist stärker als ihre Ausführung."
Besonders faszinierend im zweiten Teil, also bei den Stärken und Schwächen der Figuren, fand ich die Zweischneidigkeit des Königs. Jeder weiß, wie schwach ein in der Eröffnung im Zentrum gehaltener König sein kann und wie stark derselbe im Gegensatz dazu im Endspiel wird. Aber es gibt auch Ausnahmefälle, in denen der furchtlose König bereits in der Eröffnung oder im Mittelspiel ins Zentrum strebt und direkt ins Geschehen eingreift. Wer jetzt glaubt, dass hier lediglich auf Steinitz und seine Zeitgenossen angespielt wird, der täuscht sich. Nein, der Autor bringt auch Beispiele aus jüngerer Vergangenheit wie hier - oft gesehen, aber immer wieder ein Genuss:
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Short - Timman
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Doch auch die kraftvollen Damenmanöver kommen in diesem Buch nicht zu kurz. Die Figur der Aktion und des Angriffs entfaltet ihre Kräfte vor allem in offenen Stellungen, in denen sie durch einen plötzlichen Schwenk auf der anderen Seite des Brettes auftaucht und Unruhe stiftet. In geschlossenen blockierten Stellungen bleibt sie längere Zeit untätig, schreibt Marovic. Umso faszinierter war ich von der sich anschließenden Stellung, die man nach den gerade erhaltenen Informationen für das Thema Stärken der Dame auf Grund der blockierten Bauernformation für eher ungeeignet halten sollte. Natürlich steht der Weiße hier besser, aber man fragt sich als Leser schon, wie der Anziehende weiterkommen will. Auch die Idee des Einschlags auf b7 liegt nahe, aber Schwarz kann dies doch noch mithilfe des Springers verhindern, oder?
An diesem Beispiel gefällt mir die Art und Weise, wie die Idee, die von Anfang an da ist, umgesetzt wird. Zunächst die gegnerische Figur schlechter stellen, dann drohen über den anderen Flügel in die gegnerische Stellung einzudringen, obwohl ja die eigentliche Musik dennoch auf dem Damenflügel spielt. Der Gegner kann aber nicht anders; er muss sich um den Königsflügel kümmern. Jetzt noch - entgegen der Natur der Dame - die Stellung am Königsflügel schließen, damit dem Springer die Felder für die Verteidigung genommen werden und dann wieder zurück zum Damenflügel und dann endlich den Plan durchsetzen.
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Petrow - Grau
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Schwerpunkt bei den Türmen sind die offenen Linien und der Druck, den sie auf halboffenen Linien auswirken, denn "aus einer offenen Linie bezieht der Turm seine Stärke".
Der Wert der Leichtfiguren hängt sehr von ihrer "Umgebung" ab bzw. davon, ob eine Stellung geschlossenen oder offenen Charakter hat. Sie müssen sich in Harmonie mit der Bauernformation befinden. So kann man eben nicht verallgemeinernd sagen, ob der Läufer oder der Springer überlegen ist. Beide haben ihre Vor- und Nachteile.
Auf die Relativität der Figurenwertigkeit ist Marovic schon vorher wie folgt in fast schach-philosophischer Manier eingegangen: "Aber je länger wir unterwegs sind, desto bewusster wird uns die große Illusion, die wir als nominelle Werte bezeichnen. Am Ende wissen wir, dass es im Schach keinen einzigen nominellen Wert gibt, der konstant ist. Wir lernen, dass Werte von den Umständen abhängen, dass sie sich den Umständen entsprechend verändern, dass sie in der sich ständig verändernden Welt auf dem Schachbrett temporäre Standards darstellen. Die Wahrheit im Schach ist relativ, und diese Qualität durchdringt jedes einzelne Detail des Spiels, aber vielleicht keines so vollständig und sichtbar wie den Figurenwert." (S.129)
Insgesamt möchte ich dieses 240 Seiten umfassende Buch von Marovic auf jeden Fall weiterempfehlen an Spieler ab einer DWZ von etwa 1600. Mir hat es - wie ich hoffentlich mit meiner Begeisterung für die ausgewählten Beispiele unterstreichen konnte - vom Konzept sehr gut gefallen und ich denke, dass man viel daraus lernen kann. Sich bei den Beispielpartien und Stellungen ausschließlich auf starke professionelle Spieler zu stützen, war eine gute Entscheidung, denn die prägnanten Ideen sind dank der guten Kommentierung des Autors verständlich geworden. Auch auf relevante Nebenvarianten wird ausreichend oft eingegangen. Wichtig finde ich es stets, dass zu jeder Partie ein Diagramm zu finden ist, manchmal auch zwei, sodass man einige Beispiele auch ohne Schachbrett nachvollziehen kann, doch ist es schon empfehlenswert ein Brett in der Nähe zu haben, weil sich die meisten Beispiele nicht auf ein paar Züge einer bestimmten Hauptvariante beschränken.
Es gibt nur eine Sache, die man in meinen Augen noch verbessern könnte und zwar betrifft dies die Aufmachung. Es wäre noch besser, wenn man die Grundsätze (Merkregeln), die ja immer wieder hier und dort auftauchen, fett oder grafisch (z.B. in Kästen) hervorheben würde, denn wer das Buch liest, ohne sich die wichtigen Passagen "anzumarkern", wird es später schwer haben, diese wieder zu finden. Aber ansonsten sehr lehrreich und klasse vielseitig gemacht. Deshalb - trotz des kleinen Makels - alle fünf Sterne!!!!
das Buch stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) für die Rezension zur Verfügung