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Blicke auf die Gabe, die Sterne vom Himmel zu holen

Die Wege von Peter Leko und Alexei Shirov im Zeitalter der Superturniere neu entdecken

Rezension von Harald Fietz, Januar 2004

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Sergei Soloviov: Leko's One Hundred Wins

Chess Stars 2003
ISBN 954-8782-31-6
340 Seiten; 27,95 €
Sprache: Basic Englisch

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,0 aus 5

 

   In jedem Sport gibt es sie, die Athleten mit dem besonderen Touch, die durch eine einzigartige Aktion oder einen intensiven Wettkampf das Publikum verzücken. Schach hat dabei den unschätzbaren Vorteil, dass geniale Zugfolgen von jedem jederzeit und überall nochmals genossen werden können. Zwei Himmelstürmern auf 64 Feldern widmet der Chess-Star-Verlag, der ein Autorenteam rund um Ex-Weltweltmeister Alexander Chalifman und seine St. Petersburger Schachschule rekrutiert, seine Aufmerksamkeit. Der lettische Spanier Alexei Schirov und der Dortmunder Ungar Peter Leko repräsentieren dabei höchst unterschiedliche Typen. Der Mann aus Riga wird am 4. Juli 2004 32 Jahre und gilt schon seit seiner Jugend als Grenzgänger zwischen solider Spielanlage und beseelter Fantasiesuche. Der in Szeged lebende WM-Herausforderer im Wartestand feierte am 9. September 2003 seinen 24. Geburtstag und hat die Hälfte seines Lebens in der professionellen Schachszene verbracht. Seinem Spielstil haftete lang Zeit das Image an, zu vorsichtig, bisweilen gar langweilig, zu sein. Doch im Jahr 2002 staunte die Schachwelt nicht schlecht: Kämpferisch, risikofreudig und mit einer Kiste voller Eröffnungsideen zauberte er nicht nur, sondern sammelte Erfolge für seinen neuen Status in der Schachhierarchie - unverkennbar ein Sprung im Reifeprozess. Eigentlich waren es im letzten Jahr nur zwei Turniersiege, dafür aber die mit dem größten Prestige: Dortmund 2002 als Sprungbrett zum WM-Match und Linares 2003, das Wimbledon des königlichen Spiels, als Ritterschlag unter Superstars. Platzierungen auf dem Podium in den elo-schwächeren Turnieren von Essen 2002 (2. Rang) und Budapest 2003 (3. Rang) dienten vor allem als Testläufe für die höheren Weihen. Selbst zwei Partien von im April abgehaltenen Turnier in der ungarischen Metropole sind unter den ausgewählten 100 Siegen des Spielers, der bereits 1992 als 11-Jähriger in Dortmund mit Großmeistern analysierte und blitzte. Die Analysen stammen aus unterschiedlichen Quellen: IM Sergei Soloviov steckt dahinter, wenn nicht explizit ein anderer Begutachter genannt wird. Dann handelt es sich um die Großmeister Alexei Bezdogow, Alexander Goloschchapow, Konstantin Sakajew und Sergei Shipow sowie IM Maxim Notkin. Bis auf Notkin, der regelmäßig für den Internet-Service Chess Daily schreibt, sind die Arbeiten dieses Teams im Sprachraum außerhalb Russlands kaum bekannt. Hinzu trifft als Anführer Chalifman, der sowohl einzelne Partien vollständig unter die Lupe nimmt als auch Analysen der anderen ergänzt (dann durch Kursivschrift gekennzeichnet). Ein biographischer Abriss und ein Vorort-Bericht aus Dortmund 2002 komplettieren die erste größere Werkschau.

 

Sergei Soloviov: Shirov's One Hundred Wins

Chess Stars 2003
ISBN 954-8782-28-6
216 Seiten; 27,95 €
Sprache: Basic Englisch

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,0 aus 5

 

   Nach gleichem Muster ist die Partiensammlung von 100 Schirov-Siegen aufgebaut. Doch hier merkt man deutlich, dass den Autoren auf 35 Seiten Einführung (statt 20 Seiten bei Leko) seine Denk- und Spielweisen aufgrund des gleichen sozio-kulturellen Umfelds vertrauter sind. Darin enthalten ist ein 15-seitiges "Etappen-Interview" mit Juri Vasiliew, in welchem Shirov im Anschluss an Erfolge zwischen 1998 und 2000 über seinen schachlichen und privaten Werdegang nachdenkt. Bekannte und unbekannte Details fügen sich zu einen Puzzle zusammen (Vorbild Tal, die Kasparow-Schule, die Konflikte mit Kasparow und Kramnik, drei Heiraten und drei Kinder mit Schachspielerinnen, Rückkehr in die Heimatstadt Riga usw.). Der 100-Partien-Teil umspannt die Periode 1990-2002. Verglichen mit seiner Autobiographie "Fire on Board" (Cadogan Chess 1997), die für den Zeitraum 1983 bis 1996 101 Partien und 11 Endspielstellungen umfasst, gibt es eine Schnittmenge von nur 20 Partien. Durchaus reizvoll sind die Vergleiche. Das Autorenteam um Soloviov versäumte es gelegentlich, an kritischen Stellen einen belegten Abgleich mit dem früheren Buch vorzunehmen. Dennoch sollte sich der wahre Shirov-Fan die neue Sammlung zuzulegen. Es hat sich einfach viel verändert in Shirovs Karriere und der Schachwelt generell.

 

Sergei Soloviov: Super Tournaments 2002, 2003

Chess Stars 2003
ISBN 954-8782-30-8
556 Seiten; 28,50 €
Sprache: Basic Englisch

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Abseits der schachpolitischen Ränkespiele war 2002, wie die dritte Chess-Star-Publikation Zeugnis gibt, ein Jahr, in dem auf den Superturnieren erstklassiges klassisches Schach zelebriert wurde. Sicher ist hierzu viel in Zeitschriften und Periodika veröffentlicht worden, aber mit der massiven 550-Seiten-Rückschau erhält man fünf Turnierbücher in einem Band. Alle 224 Partien sind ausführlich analysiert - kurze Turnierberichte und Interviews inklusive. Auch hier gilt, dass vieles für diejenigen neu ist, die keine russische Schachpresse studieren. Wer den englischsprachigen, elektronischen Chess-Daily-Service erhält, hat bei Analysen des ukrainischen GM Mikhail Golubevs (hier zum FIDE-WM-Final-Match Ponomariow-Iwantschuk) und Notkin Dubletten. Internet-Analysen von Sergei Shipov liegen jetzt gedruckt vor. Aber unbekanntes Material bleibt reichlich: Konstantin Sakajew, das Bundesliga-Spitzenbrett der SG Bremen, analysiert z.B. alle 42 Partien von Linares 2002. Der schiere Seitenumfang lädt zum Schmökern ein: Wijk aan Zee (215 Seiten!), FIDE-WM-Finale (20 Seiten), Cannes (100 Seiten), Linares (104 Seiten) und Dortmund (111 Partien). Man fühlt sich an goldene Zeiten erinnert, in denen es Muse gab, jedes Zusammensitzen der Superhirne intensiv zu ergründen.

   Alle drei Werke werden durch vierfarbige Fotoseiten - teilweise mit im Westen unbekannten Privatfotos - verschönert. Drucktechnisch haben die Erzeugnisse aus Osteuropa aufgeholt. Auch in Bulgarien erstellt man diese mit neuer Technologie auf blütenweißem Papier und mit kräftigem Farben. Das Lesevergnügen wird durch das gebrochene Englisch der Übersetzung etwas gemindert. Einfaches Schulenglisch genügt vollkommen. Als Bereicherung für den Markt im Westen ist allerdings zu schätzen, dass qualitativ hochwertige Analyse und unbekannte Presse-Berichte neue Einblicke verschaffen. Aus dieser Warte können alle drei Publikationen empfohlen werden.

 

Peter Leko: Leko lehrt Schach (1)

Chessgate AG 2001
VHS-Video
2,5 Stunden; 24,95 Euro.

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Wer dann noch nicht genug hat, der bekommt Leko von einer anderen Seite zu sehen. Videos mögen nicht jedermanns Sache sein, aber das gesprochene Wort besitzt bisweilen eine unglaubliche Wirkung: Ist der Erzählende - wie ein guter Lehrer - jemand, der grundlegende Merksätze, manchmal auch nur beifällig geäußerte Regeln und Prinzipien, mit einer bildreichen Sprache vermitteln kann, bleibt immer etwas haften. Solche Quintessenzen bieten nicht selten Impulse für das eigene Spiel. Leko gelingt es, - unterstützt von Stefan Kindermann als Stichwortgeber - in dem Zweieinhalbstunden-Video, mit seinen perfekten Deutschkenntnissen unterhaltsam und intensiv Fakten und Nuancen zu Biographie, Trainingsmethoden, der Kunst der Verteidigung und dem Triumph der Phantasie aufzudröseln. 15 Partien und Stellungen werden ausführlich Zug für Zug interpretiert - sieben davon sind auch in der 100-Partien-Sammlung. Wieder bringen Vergleiche zusätzliche Dimensionen zu Tage. Die verbalen Ausführungen skizzieren Hintergründe für stichhaltige Varianten: Die Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren, das Einbeziehen psychologischer Überlegungen, das Abwägen von konkreten Zugfolgen und Vertrauen auf Intuition sind latente Faktoren für den kreativen Entscheidungsprozess, die der direkt Beteiligte am exaktesten eingrenzen kann. Wie bei Shirov ergänzen sich Innenblick des Spielers und Außenperspektive der Experten weitgehend. Auch wenn es keine definitive Antwort darauf gibt, warum diese Spieler häufiger kreativ und genial agieren, es vermitteln sich, dass Schach in diesen Höhen eine mühevolle, komplexe Angelegenheit von befriedigender Schönheit sein kann. Allein darum lohnt es, ein Brett aufzubauen.

 

 

die Rezension erschienen in Schachmagazin 64, Nr. 1 / 2004, S. 18-20
die Rezensionsexemplare stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung


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