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Die Tiefe im Schach ergründen

Igor Stohl: Instruktive Meisterwerke aus der modernen Schachpraxis

Rezension von Harald Fietz, September 2004

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Igor Stohl: Instruktive Meisterwerke aus der modernen Schachpraxis

Gambit 2003
ISBN 1-904600-04-2
368 Seiten; 17,2 x 24,7 cm; 29,95 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

   "Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr," meinte Oscar Wilde. Diesen Sinnspruch unterschreibt der slowakische Großmeister Dr. Igor Stohl wahrscheinlich ohne Zögern. Seit zehn Jahren praktiziert der studierte Jurist Schachforschung in einem nicht einfachen Genre: Der Kommentierung von herausragenden Leistungen der Spitzenkönner. Siegbert Tarrasch, Savielly Tartakower, Richard Reti, Alexander Aljechin, Jan Timman und Jonathan Speelman sind Namen, die den meisten Schachspielern in diesem Zusammenhang sofort in den Sinn kommen. Schreiben über die Produktionen anderer ist eben nicht gleichzusetzen mit der Herausgabe eigener Partien. Es verlangt auch, Merkmale für unterschiedliche Spielstile einer Entwicklungsperiode zu ermitteln. In den letzten beiden Jahrzehnten kam diese Art der Standortbestimmung in Buchform außer Mode. Stohl legt eine Bilanz der Jahre vor der Jahrhundertwende vor.

   "Instruktive Meisterwerke aus der modernen Schachpraxis" heißt der wenig prickelnde Titel des aus dem Englischen übersetzten Werks, welches 2001 im Original beim Gambit-Verlag erschien. Was verbirgt sich hinter dieser Sematik? Mit den Wort "instruktiv" ist es wie mit dem Terminus "innovativ": Es trägt eine schwammige, aber interessant klingende Gewichtung mit. Während "innovativ" schlicht "neuartig" kennzeichnet, bedeutet "instruktiv" einfach "lehrreich". Ähnlich verhält es sich mit der Eigenschaft "modern", was hier eigentlich "zeitgenössisch" meint. Schon Tarrasch gab 1913 "Die moderne Schachpartie" heraus. Als modern gilt alles, was in jüngster Vergangenheit entstand und in der Gegenwart für bedeutsam erachtet wird. Ein Streifzug durch die Vorworte weit verbreiteter Partiensammlungen erhellt, welche Suchrichtungen an verschiedenen Gezeitenmarken der Schachgeschichte eingeschlagen wurden.

   Tarrasch, dem Pionier der Systematisierung von Schachwissen nach Wilhelm Steinitz, hing mit dem schmückenden Beinamen "Praeceptor Germaniae" ("Lehrmeister der Deutschen") der Ruf an, "zu dogmatisch" den Stand des Schachkönnens in Regeln zu fassen. Im Geiste seiner Epoche, als Universallösungen im gesellschaftlichen starren Kaiserreich vor dem ersten Weltkrieg gefragt waren, fasste sich das so in Worte: "Ich beschränke mich nicht auf die vorliegenden Partien, sondern suche den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht. Ich abstrahiere meist vom speziellen Fall auf das Allgemeine und stelle eine Menge von Grundsätzen und Lehrsätzen auf, deren Erkenntnis die Sicherheit der Spielführung ungemein fördert." (Tarrasch, Die Moderne Schachpartie, 1913) Die Traumatisierung des europäischen Waffengangs setzte in vielen Sphären einen Modernisierungsschub frei. Das Schach blieb in den 1920er Jahren davon mit einer radikalen Hinterfragung der Spielprinzipien nicht ausgenommen (selbst Tarrasch experimentierte dann mit "neuen" Eröffnung!). Tartakower und Reti legten bahnbrechende Partiesammlungen vor. Es galt insbesondere, das Verständnis für noch wenig bekannte Eröffnungssysteme zu wecken: "In Ausführungen einer neuen, dem Plastischen zustrebenden Methode wird im Buche nicht nur das Variantenmäßige, sondern an der Hand besonders markanter Beispiele auch das Wesen des neuen Schachs sowie manche Frage zur Mittelspiel- beziehungsweise zur Endspielstrategie zur grundlegenden Beleuchtung gelangen ..." (Tartakower, Die Hypermoderne Partie, 1925) Dem individuelle Stil und psychologischen Momenten widmete Reti Aufmerksamkeit: "Ein Schachlehrbuch kann dem Schachfreund nur ein Begleiter sein, den er bei schlimmen Erfahrungen zu Rate ziehen kann, der ihm neue schlimme Erfahrungen erspart und der ihm in Mußestunden genug von den Schönheiten und Tiefen unserer Kunst zeigt, um ihm die Freude am Schach zu geben, welche die notwendige Voraussetzung des Erfolges ist. Dies sind die Ursachen, welche mich bewogen haben, für dieses Lehrbuch die Form einer Partiensammlung für angemessen zu halten." (Richard Reti, Die Meister des Schachbretts, 1930)

   Loteten die Klassiker grundsätzliche Schachauffassungen aus, sieht das im letzten Viertel des 20. Jahrhundert gänzlich anders aus. Jeder Zug, jede Wendung steht auf dem Prüfstand: Eröffnungstrends identifizierten, dynamische Übergänge zwischen Spielphasen hinterfragen, Varianten bis in studienhafte Wendungen herunterbrechen, Analysen aus verschiedenen Quellen zusammenführen und bewerten sind in der Nach-Bobby-Fischer-Ära gefordert, als Schach weltweit einen Aufschwung erlebt. Jan Timman unterzog damals das Beste der Besten seinem kritischen Blick: "Ich habe ihnen große Aufmerksamkeit gewidmet und die größtmögliche Genauigkeit angestrebt. Es ist selbstverständlich, dass die Phantasie dabei zuweilen weit ausgeschweift ist. Denn nicht nur das Spiel selbst, sondern auch die Analyse bedarf der Inspiration." (Jan Timman analysiert Großmeisterpartien, 1982)

   In die Tradition der Holländers möchte sich Stohl einreihen, wie er freimütig äußert. Der Vize-Juniorenweltmeister von 1982 begann 1994 für die Zeitschrift Ceskoslovensky Sach die Rubrik "Partie des Monats" wiederzubeleben. Diese Beiträge mit bis zu zwei A-4-Seiten bildeten die Keimzellen für die Zusammenstellung von 50 Toppartien aus den Jahren 1993 bis 2000. Vom Verlag bekommen sie noch das Prädikat "sensationell", aber der Großmeister aus Bratislava ist - wie er ebenfalls im Vorwort darlegt - nicht allein an spektakulären Momenten interessiert: "Ein typisches Merkmal des modernen Schachs ist seine Komplexität; heutzutage wird eine Partie zwischen ebenbürtigen Gegnern nur sehr selten durchweg von einem einzigen Thema dominiert. Flexibilität hat üblicherweise Vorrang vor langfristiger Planung; insbesondere irrationale und spannungsgeladenen Aufeinandertreffen sind reich an taktischen und strategischen Motiven." Sicher sind nicht die Aufeinandertreffen irrational, sondern nur die Kapriolen, die innerhalb der Bandbreite zwischen soliden Varianten mit geringer Gewinnerwartung und risikoreichem Spiel mit ungewissem Ausgang stattfinden. Gleichgewichtsstörungen mit bewusster Verletzung etablierter Prinzipien können natürlich zugespitzten Turniersituationen geschuldet sein, sie mögen aber ebenso typisch für unorthodoxe Lösungen sein, die rechengewaltige "Freunde" auf Notebook-Festplatten der Schachelite suggerieren. Die digitale Orientierung prägt - im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren - zweifellos den Schachsport. Dieser Tendenz trägt Stohl Rechnung, freilich ohne sich völlig in die Kontrolle der elektronischen Unterstützung zu begeben. Lehrhaftes zu illustrieren bleibt immer noch das intellektuelle Vergnügen des Menschen. Was bietet der Slowake vor diesem Hintergrund?

   Umfang: Volle 358 großformatige Seiten nonstop für 50 Partien stecken einen gewichtigen Rahmen ab (physisch 666 Gramm!). Prominent vertreten sind Kasparow achtmal, Shirov und Topalow je sechsmal, Kramnik fünfmal, Anand und Gelfand je viermal. Bei Eröffnungen liegt der Schwerpunkt auf Sizilianisch zehnmal, Spanisch, Damenindisch und Englisch je viermal, abgelehntes Damengambit, Caro-Kann und Halbslawisch je dreimal. Neben den bekannten Spitzenturnieren tauchen vereinzelt Partien aus im deutschsprachigen Raum weniger wahrgenommenen Veranstaltungen auf (z.B. spanische Mannschaftsmeisterschaft, russischen und niederländischen Einzelmeisterschaften oder Zweikämpfen in Norwegen oder Tschechien). Leistungen von Kasparow oder Shirov erhalten zehn und mehr Seiten.

   Methodik: Die Art der Präsentation ist nicht revolutionär, zeichnet sich aber trotz der Variantentiefe durch Übersichtlichkeit und hilfreiche Didaktik aus. Es sind die kleinen Dinge, die das Arbeiten erleichtern: Viele Diagramme ermöglichen den Einstieg in verschiedene Partiephasen. Selbst wenn ein Zug tief untersucht wird (manchmal bis zu zwei Seiten), geht dem Leser in den Verästelungen nicht der Blick verloren: Diagramme schaffen Fixpunkte, Textpassagen trennen Hauptvarianten, Varianten sind im Layout in Absätze gesetzt. Besonders inspirierend lesen sich die Rekapitulierungen der Partien (siehe Beispiel unten). Da davon ausgegangen werden kann, dass der potentielle Leser ein überdurchschnittliches Quantum an Zeit mitbringt, kann hierzu folgendes Prozedere vorgeschlagen werden: Erst die Partie ohne Varianten in einem Zug durchspielen, Zusammenfassung anschauen und dann entweder von vorne mit Abspielen oder an interessanten Stellen einsteigen. In einer Sitzung wird man wahrscheinlich nur die kürzeren Partien schaffen Auf alle Fälle können die Zusammenfassung ein Vorbild für die Bilanzlegung eigener Partien sein. Stohl zeigt, dass das Fassen in Worte eine erkenntnisreiche und spannende Sache ist.

   Themenbreite: Nicht nur die Partienresümees stärken das Schachverständnis. Durch den Mix verschiedener Quellen (eigene Analyse, Analysen der Beteiligten, Computercheck, sonstige Veröffentlichungen) gelingt es, im Rückblick für alle Partiephasen beispielhafte Merkmale zu orten. Bei Eröffnungen nimmt das nicht wunder, da der Neuköllner Bundesligaspieler seit Jahren auf dem Gebiet für ChessBase tätig ist. Theoriediskussionen werden bei allen 50 Partien bilanziert, aber für einige Systeme (sizilianische Richter-Rauser-Variante, Halbslawisch und angenommenes Damengambit) werden gerade an der Schnittstelle zwischen Eröffnung und Mittelspiel umfassende, eigenständige Analysen präsentiert. Mittelspieltaktik ist - wie bereits beim Umfang erwähnt - u.a. Domäne von Kasparow (Partien gegen Topalow, Wjik aan Zee 1999 und unterstehend gegen Short) und Shirov (Partie gegen Hracek, Ostrava 1998 und Nisipeanu, Las Vegas 1999). Allein die Erinnerung an diese Balanceakte lohnt die Anschaffung. Noch praxisrelevanter erscheint allerdings, dass Stohl in Stellungen mit sichtbar wenig konkreten Fortsetzungen Gründe für das Abwägen anführt (z.B. Entscheidungen rund um Zeitkontrollen, falscher Einsatz von Taktik, positionelle Figurenopfer, bessere Defensivmethoden, Wert von Leichtfiguren in bestimmten Stellungstypen). Endspiele kommen weniger vor, obwohl zwei Beispiele (Turmendspiel aus Torre - Iwantschuk, Jerewan 1996 und Turmendspiel plus unterschiedliche Leichtfigur aus Kramnik - Gelfand, Belgrad 1997) ausführlich Figurenwirkungen in der finalen Phase zeigen. Wohltuend zurückhaltend werden Computeranalysen erwähnt; eigentlich nur, wenn der Computer etwas Spielbares findet, was dem menschlichen Denken fern liegt.

   Das folgende Beispiel aus der Kategorie "intuitives Opfer" steht exemplarisch für Mittelspiele, wie sie in diesem Buch überwiegend vorkommen. Auf Nachfrage Stohl nannte es seine Lieblingspartie. Hier kann nur mit der Zeichenkommentierung verdeutlicht werden, wo Kritisches erwartet werden darf. Die Analyse der gesamten Partie des 13. Weltmeisters umfasst 13 Seiten mit 17 Diagrammen!

 










Kasparov,G (2812) - Short,N (2697) [E20]
Nimzowitsch-Indisch [E20]
Sarajevo, 1999

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Sf3 c5 5.g3 0-0 6.Lg2 cxd4 7.Sxd4 d5 8.cxd5 Sxd5 9.Ld2 Lxc3 10.bxc3 Sb6!? 11.Le3!? Sd5 12.Dd2 Sd7 13.Lg5! Dc7 14.Sb5 Dc5 15.c4! Dxc4 16.Tb1 S7b6 17.0-0 h6!? 18.Lxh6! gxh6 19.e4 Se7 20.Tfc1 Da4 21.Dxh6 Ld7 22.Tc5 Sg6 23.Tg5 Dc2 24.Sa3! Dd3! 25.h4 Dxa3 26.h5? De7 27.e5 Le8! 28.Le4 f5 29.exf6 Txf6 30.hxg6?! Dg7? 31.Dh7+ Kf8 32.Dh4 Tc8? 33.Th5! Lxg6 34.Th8+ Kf7 35.Txc8 Sxc8 36.Txb7+ Se7 37.Lxg6+ Dxg6 38.Db4 Df5 39.Dxe7+ Kg6 40.Dh7+ 1-0

Zusammenfassung:

"Nach Shorts ungewöhnlichem 10… Sb6!? und insbesondere nach seinem ersten neuen Zug 11… Sd5 erkannte Kasparow schnell, dass er aufgrund seiner strukturellen Schwächen mit langsamen Methoden nicht um Vorteil kämpfen konnte. Daher musste die Rochade warten (11.Le3!?, 13.Lg5!, 14.Sb5), während Weiß den ehrgeizigen Plan verfolgte, das Zentrum zu öffnen und die normale Entwicklung des Nachziehenden zu stören, was in dem Bauernopfer 14.c4! gipfelte. In derartigen dynamischen Situationen verfügt Kasparow über eine außergewöhnliche Intuition. Hier fehlte dem Nachziehenden immer ein einziges lebenswichtiges Tempo zur Konsolidierung.

Im ersten Teil der Partie fand der größte Teil der Kampfhandlungen am Damenflügel statt, wobei der Einfluss des weißen Fianchettoläufers eine wichtige Rolle spielte, aber dies änderte sich nach 17.0-0. Short erkannte, dass er seine Kräfte nur koordinieren konnte, wenn er eine Schwächung seines Königsflügels in Kauf nahm und damit zu einem gefährlichen Opferangriff einlud. Vermutlich ebenfalls intuitiv entschied er sich dafür, diese Entscheidung nicht zurückzustellen (17... h6!?), wobei er richtigerweise davon ausging, dass es sowieso keinen ‚sicheren' Ausweg gab. Nach 21.Dxh6 blieben allgemeine Erwägungen größtenteils auf der Strecke, und es ging hauptsächlich darum, ob die schwarze Dame in der Lage sein würde, dem König zu helfen (was sie häufig auch aus der Entfernung tun kann; z.B. von a1 oder a3 aus). Die nachfolgenden logischen Züge erhöhten die Spannung und nach 23.Tg5 befand sich Schwarz in einer psychologisch sehr unangenehmen Lage. Weiß hatte ein garantiertes Remis und verfügte über eine große Zahl gefährlicher Angriffsideen, die bei laufender Uhr nur sehr schwer alle im Auge zu behalten sind. 23... Dc2 war spielbar, aber sogar hier gilt die allgemeine Regel 'Abtausch erleichtert die Verteidigung' - 23... Lxb5!? war eine sehr brauchbare Alternative.

Die Schlacht wogte weiterhin praktisch auf dem gesamten Brett hin und her. Nach 24.Sa3! blieb der Springer am Leben und trug in vielen Varianten zum weißen Angriff bei. Es ist schade, dass Kasparow erst unmittelbar nach der Partie auf 25.Tb3! hinwies und die faszinierenden Abspiele hinter den Kulissen blieben. Mit 26.h5? überspannte Kasparow dann wirklich den Bogen, aber als der weiter Druck ausübte (30.hxg6?! anstelle von 30.Lxh6), ließ Short in Zeitnot mit 32... Tc8? den Wechsel der Reihenfolge der weißen Schwerfiguren auf der h-Linie zu und brachte sich damit selbst zu Fall."

 

   Stohl bietet keine leichte, aber leicht verdaubare Kost. Er zeigt dem Leser, was den Gehalt einer Partie ausmacht. Natürlich ist dies mit der heutigen Informationsmenge leichter, aber die Kunst besteht darin, die Quintessenz zu finden, d.h. das Wichtige von Unwichtigen zu scheiden und darüber hinaus Trends und Regeln einzuflechten. Hier leistete Stohl Substanzielles und schaffte es en passant, - was vielen großen Schachdenkern leider weniger gegeben ist - schachschriftstellerisch an die Großen der Zunft anzuknüpfen. Insbesondere Spielern ab DWZ 1900 sollten aufmerken: Uneingeschränkt empfehlenswert!

 

 

Eine zweite Meinung: Rezension von FM Hans Wiechert.

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 5 / 2004, S. 135/136
das Buch stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) zur Verfügung


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