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Täuschungen und Enttäuschungen der selbstdenkenden Kisten

Tom Standage: Der Türke

von Harald Fietz, Dezember 2003

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Tom Standage: Der Türke

Campus Verlag 2002
ISBN 3-593-36677-0
Leinen; 224 Seiten; 21,50 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Eben erst erlebten Schachfreunde weltweit, dass in New York ein weiteres Kapitel "Mensch gegen Maschine" als Balanceakt auf 64 Feldern keinen klaren Sieger hervorbrachte. Seit über 200 Jahren, als die österreichische Kaiserin Maria Theresia 1769 den ungarischen Hofbeamten Wolfgang von Kempelen anwies, einen Schachapparat zu bauen, bannt diese Art des intellektuellen Wettstreits auch Kreise jenseits eingefleischter Liebhaber des königlichen Spiels. Tom Standage, Wissenschaftskorrespondent beim renommierten "Economist", hat 2002 zeitgleich auf Deutsch und Englisch die abenteuerlichen Geschichten der 85-jährigen Existenz der ersten, mechanischen Schachmaschine in einem kultur- und technikgeschichtlichen Rückblick nachgezeichnet. Und das digitale Zeitalter - von den Pionieren Alan Turing und Claude Shannon in den 1940er und 1950er Jahren bis zu Kasparows Auftritt gegen den IBM-Rechner Deep Blue 1997 - fehlt auch nicht.

   Heute regeln Computer wie selbstverständlich unser Leben. Sie erleichtern viele Transaktionen, weil sie Unmengen an Informationen speichern, systematisieren und suchen. Ihre Aufgaben unterliegen von Softwareprogrammen vorgegebenen Funktionen. Die Maschine folgt Byte für Byte dem Mensch nach dessen Regeln. Automaten sind die Neandertaler der Computerhistorie. Einst besaßen sie einen Unterhaltungswert als Spielzeuge der herrschenden Klassen und dienten als Demonstrationsobjekte wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit. Automaten bewältigten - neben Vergnügen (z.B. tanzende Puppen, mechanische [Kirchen- oder Rathaus-] Uhren) - vor allen körperliche Arbeiten, die die Kräfte des Einzelnen überstiegen. Aber können Apparate aus sich heraus geistige Leistungen erzielen? Dies ist das uralte Verlangen der Nachahmung der Schöpfung, wie es in der Literatur nach dem Zeitalter der Aufklärung durch Mary Shellys Roman "Frankenstein" (1818) erneut als Vision in Mode kam. Das schwerste aller Brettspiele galt in dieser Hinsicht als Prüfstand der Physik. Und von Kempelen, der sich in der höfischen Umgebung als Multitalent einen Namen machte (übersetzte das bürgerliche Gesetzbuch vom Lateinischen ins Ungarische, erfand ein Pumpensystem für wasserüberflutete Bergwerke, plante die Besiedlung der gebirgigen Banatregion u.v.m.), verfügte über Kenntnisse, die Illusion zu realisieren.

   Nach sechs Monaten Bauzeit präsentierte er einen Kasten, der 1,20 Meter lang, 85 Zentimeter tief und 90 Zentimeter hoch war. Im Inneren bestaunten die gebildeten Herrschaften von vorne und hinten durch die Öffnung von Türen und Schubfächern einen Mechanismus von Rädern, Nocken, Gestängen und Walzen. Hinter der holzvertäfelten Konstruktion saß in einem orientalischen Gewand mit Turban, langer Pfeife und einem Schachbrett vor sich der "Türke". Seit dem Zurückdrängen der Belagerung Wiens durch das Osmanenreich 1683 galt das Flair aus der südöstlichen Ecke Europas als chic. Die Kaffeehauskultur mit Vorliebe für die türkischen Brauart der braunen Bohnen etablierte sich, Diener steckten in exotischen Livreen und türkische Klänge waren angesagt (man denke nur an Mozarts Sonate "A la turca"!). Die Vorstellungen des Schach-Türken trafen geheimnisvoll den Zeitgeschmack. "Die Räder und Federn vollführen vorher festgelegte Bewegungen, aber unter dem Einfluss einer unbekannten, lenkenden Kraft", beschrieb es ein Zeitzeuge. Hinter das Rätsel kam keiner und von Kempelen half der neue Ruhm, eine ersehnte ingenieurwissenschaftliche Position im Staatsdienst zu erhalten. Den Apparat zerlegte er wohlweislich.

   Und ohne die Russen wäre vielleicht alles eine Episode der Geschichte geblieben. Doch Großfürst Paul von Russland begehrte 1781 die Schöpfung bei einem Wien-Besuch zu erleben. Die Wirkung elektrisierte die Zuschauer noch immer so sehr, dass Kaiser Joseph II. von Kempelen dienstverpflichtete, Vorführungen in ganz Europa zu geben. Standage berichtet von vielen Begegnungen u.a. mit dem amerikanischen Politiker und Schachfan Benjamin Franklin und sogar der größte Kämpe der Zeit, Francois-André Philidor, trat an - gewann aber leicht. Zudem taucht der Leser ein in eine Welt voller nützlicher und skurriler Erfindungen, streift philosophische Betrachtungsweisen und nimmt Kenntnis vom damaligen Technikverständnis.

   Nach von Kempelens Tod 1804 wurde es ruhiger um den Schachautomaten - bis 1809 Napoleon in Wien auf die Maschine hingewiesen wurde. Johann Nepomuk Mälzel, ein Erfinder, der sie von von Kempelens Sohn erwarb, begeisterte aber nicht nur den Feldherrn, sondern dessen Stiefsohn Eugène de Beauharnais, dem er sie letztlich für den dreifachen Preis (samt Geheimnis) verkaufte. Doch die politischen Konstellationen wendeten sich nach Napoleons Niederlagen und Mälzel schaffte es, dem finanziellen klammen Franzosen den Apparat abzuschwatzen. Der Rest ist Furore mit zahllosen Auftritten in England und Amerika und Standage belebt in diesem Zusammenhang vor allem zwei spannende Meilensteine der Zivilisationsgeschichte: die technische Seite und Zusammenhänge rund um die Differenzmaschine von Charles Babbage, dem englischen Ur-Vater des Computerdenkens, und die literarische Meisterleistung des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe, der 1836 in einem scharfsinnigen Essay ("Mälzels Schachspieler") die Vermutung des Menschen in der Maschine erhärtete. Mälzel gelang es noch kurzzeitig, sich um ein Eingeständnis zu drücken und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten weiter zu touren. 1838 landete er mit seinem Team in Havanna, sein Sekretär Wilhelm Schlumberger, einer der Bediener im Kasten, verstarb an Gelbfieber und die restliche Truppe verließ den gebrechlichen, verschuldeten Chef. Auf der Rückpassage nach Philadelphia betrank er sich sechs Tage sinnlos, verstarb und wurde mit einer Kanonenkugel an den Füßen dem Meer übergeben.

   Das Geheimnis lüfte ausgerechnet Dr. John Kearsley Mitchell, der Hausarzt von E. A. Poe, der den Apparat ersteigerte, eine beitragspflichtige Gesellschaft zu Erforschung gründete und nach unzähligen Anläufen den Mechanismus entschlüsselte und öffentlich machte. Der Rest ist traurig, denn das Interesse erlosch und in einer Kuriositätensammlung in Philadelphia beendete ein Feuer 1854 ein illustres Kapitel Schachgeschichte zwischen Schein und Sein. Einige Insassen wurden bekannt, darunter ein so berühmter Spieler, wie der Wiener Johann Allgaier, der mutmaßlich Napoleon "gegenübersaß", oder Aaron Alexandre, der Autor des Werks "Schachspiel-Probleme", einer Sammlung von über 2000 Problemstellungen. Warum fasziniert der Vorfahre der künstlichen Intelligenz weiterhin?

   Heute wie damals stellt sich die Grundsatzfrage, die Vlastimil Hort als Geleitgedanken für Standages Buch einwirft: "Ist der Homo Ludens endgültig zum Knöpfe drücken verurteilt oder darf er noch kreativ denken?" Die Antwort ist nicht eindeutig. Zwar mag irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem der Schachcomputer jeden Menschen so unweigerlich abhängt wie Michael Schumachers Ferrari einen Hundertmeter-Weltmeister, doch ist das wirklich kreativ. Murry Campell aus dem Deep Blue Team wird von Standage in den Zeugenstand berufen: "Ich betrachte Deep Blue in keiner Weise als intelligent. Er ist lediglich ein ausgezeichneter Problemlöser auf seinem klar definierten Spezialgebiet." Sehnte man sich zu von Kempelens Zeit nach dem menschgleichen Automat, will heute sicher keiner den auf Rechenleistung fixierten Brute-Force-Menschen. Insofern haben beide Vorstellungen Ideale, die besser Täuschungen bleiben sollten. Es lohnt trotzdem, sich das Verständnis und die Gedankenwelten solcher interdisziplinären Zwischenräume aufschließen. Entsprechend der Zeit zum Jahresende mag das Buch dazu dienen, Informatikern, Technikbastlern oder geschichtlich Interessierten als Geschenk eine anregende Zeitreise zu bescheren!

 

 

erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 21 / 2003, S. 583 / 84

 

Epilog

Als Computer noch gefräßig waren

   Da Rochade-Kuppenheim-Rezensionen üblicherweise Partien oder Stellungen umfassen, dieser faszinierende Rückblick in die Technikgeschichte jedoch ein reiner Report ist, soll eine Kurzpartie des Rezensenten gegen einen der frühern kommerziellen Tischcomputer diesen Zweck erfüllen. Die "Fischdose" kam beim Berliner Guldweida-Schnellschachturnier 1984 zum Einsatz. Mein damaliger Clubkollege Hans-Peter Ketterling beim SK Tempelhof beschäftigte sich bereits seinerzeit schon intensiv mit Test der Geräte und seine Frau Heide, die noch heute den Laden "Elektroschach" in der Kreuzberger Dudenstraße betreibt (www.elektroschach.de), stand ihm zur Seite. Die Spielstärke der Rechner war allerdings noch weit vom heutigen Level entfernt. Typisch für den Spielstil der Computer vor zwei Jahrzehnten wird der "vergiftete" Bauer genommen, anschließend die Verteidigung vernachlässigt, so dass die Kombination mit dem Turmopfer auf f6 idealtypisch zum Gewinn führt. Die Varianten wurden unter Zuhilfenahme von Shredder 7 einer Begutachtung nach heutigem Schachverständnis unterzogen.

 










Fietz,H - Superconstellation Computer [B93]
Berlin (Gulweida-Schnellschach-Turnier), 1984

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.f4 Diese Variante im Najdorf galt vor 20 Jahren als chic, nachdem John Nunn sie in der ersten Auflage seines Buch "Beating the Sicilian" wärmstens empfahl. 6...e5 7.Sf3 Dc7 8.Ld3 Le7 [ 8...exf4 9.Lxf4 Le6 10.0-0 Db6+ 11.Kh1 Dxb2 12.Dd2 Db6 13.e5 dxe5 14.Lxe5 Sbd7 15.Ld4~~ ] 9.0-0 exf4 Da beginnt die Raffgier der Maschine schon! Üblich sind 9.... 0-0 oder 9.... Sbd7. 10.Lxf4 Db6+ [ Besser war 10...Le6 11.Kh1 Sbd7 12.De1 0-0 13.Sg5 Se5 mit beiderseitigen Chancen.] 11.Kh1 Dxb2 [ Auch 11...Le6 12.Dd2 Sbd7 13.Tae1 0-0 ( 13...Sc5 14.Sd5 Sxd5 15.exd5-> ) 14.Sd5 Dd8 15.Sxe7+ Dxe7 16.e5 hätte entlarvt, wie schlecht die schwarze Dame auf b6 stand.] 12.Dd2 Sc6 13.Tab1 Da3 14.e5 [ Oder 14.Sd5 Ld8 ( 14...0-0 15.Tb3 Dxa2 16.Sxe7+ Sxe7 17.Lxd6+- ) 15.Lg5 mit starker weißer Initiative.] 14...dxe5 15.Sxe5 Sxe5 16.Lxe5 0-0?! So gering war der Rechenhorizont der Elektronenhirne damals noch. Nun forciert Weiß eine Variante und behält die Fäden in der Hand. [ 16...b5? 17.Lxf6 Lxf6 18.Txf6 gxf6 19.Le4 Ta7 20.Lc6+ Ld7 21.De3+-> ; In Betracht kommt höchstens 16...Da5 17.De1! Kf8 ( der Vorhang fällt nach 17...0-0 18.Txf6 Lxf6 19.De4 g6 ( oder 19...Td8 20.Dxh7+ Kf8 21.Lxf6 gxf6 22.Lc4 Le6 23.Lxe6 fxe6 24.Se4 ) 20.Lxf6+- ) 18.Dg3 h5 ( 18...Sg4 19.Ld6! Dd8 ( 19...Dxc3 20.Tbe1 Le6 21.Txe6 Lxd6 22.Dxd6+ Kg8 23.Txf7! ) 20.Lxe7+ Dxe7 21.Tbe1 Dd7 22.Df4 Sf6 23.Db4+ Kg8 24.Txf6 gxf6 25.Te3+- ; 18...Le6 19.Txb7-> ) 19.Lxf6 gxf6 ( 19...Lxf6 20.Dd6+ Kg8 ( 20...Le7 21.Txf7+ Kxf7 22.Lg6+ Kf8 23.Te1!+- ) 21.Sd5-> ) 20.Lc4 Tg8 21.Df3 Dc5 22.Sd5 Dxc4 23.Sxe7 Kxe7 24.Da3+ Kd8 ( 24...Ke8 25.Tfe1+ Le6 26.Txb7+- ) 25.Tfd1+ Ld7 26.Txb7 Dg4 27.Tdxd7+ Dxd7 28.Da5+! Ke8 29.Txd7 Kxd7 30.Dxh5 , doch Weiß muss noch Technik beweisen.] 17.Lxf6 Lxf6 18.Txf6! gxf6 19.Dh6 f5 20.Sd5 f6 21.Sxf6+ Txf6 22.Dxf6 Dxa2 23.Te1 Ld7 [ Schön vollendet 23...Df7 24.Lc4! ] 24.h4 [ Noch besser war 24.Dd4 Lb5 25.Ta1 Df7 26.Lxb5 mit materiellem Vorteil.] 24...Tf8 [ Es musste die Rückführung der Dame zu Verteidigungszwecken erwogen werden: 24...Df7 25.Lc4 Dxc4 26.Dg5+ Kf8 27.Dh6+ ( 27.Te7? Dd4 28.Txh7 Le8-+ ) 27...Kf7 ( 27...Kg8 28.Te7+- ) 28.Dxh7+ Kf8 29.De7+ Kg8 30.Te3 Df4 31.Tf3 Dc1+ 32.Kh2 Dh6 33.Dxd7 und Weiß drückt weiterhin.] 25.Dd4 Da4 [ Einzig spielbar war 25...Lb5 26.Te3 f4 27.Lxb5 axb5 28.Te7 Tf7 29.Te5 h6 30.De4 Kg7 31.Te6 , aber Weiß hat weiterhin die Initiative.] 26.Lc4+ Tf7 27.Te7 1-0

 

 

erhältlich im Buchhandel oder Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden)


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