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Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegten

Mord vor dem Dinner, Teil 3

von FM Wolfgang Gerstner, September 2001

zu den Schachtexten

 

   "Ich bin in einem kleinen schottischen Dorf aufgewachsen", der Anwalt lächelte schief, "in welchem der erfolgreiche Widerstand im 14. Jahrhundert gegen die englische Krone mit einem jährlichen, großen Schützenfest begangen wird. Auch wenn ich die Armbrust besser beherrsche, sollten drei Meter kein Hindernis darstellen."

"Miss Queen?" Konnte er wenigstens einen Verdächtigen streichen?

"Ich bin nur eine leidliche Schützin, Mr. King", bedauerte Margaret, "vielleicht wäre mir ein Treffer gelungen, vielleicht auch nicht."

"Sie scheinen sich sicher zu sein, daß es einer von uns war", bemerkte Harrison und schaute King ruhig ins Gesicht, "nicht wahr?"

"Die Tatwaffe wurde im Obergeschoß gefunden", erläuterte King "Das grenzt den Verdacht in der Tat auf die im Haus Anwesenden ein. Kein Einbrecher hätte sich die Mühe gemacht, erst noch die Waffe im Wasser zu versenken." Er erfaßte die Anwesenden mit einem scharfen Blick und wartete auf eine verräterische Reaktion.

"Im Wasser?" fragte Reginald perplex. "Wie meinen Sie das?"

Sechs fragende Augenpaare ruhten auf dem Chief Inspector, als dieser antwortete: "Der Täter hat Sie oben in die Vase getan."

"Und in welche der drei Vasen?" Virginias Stimme hatte immer noch den gleichen sanften Klang.

"In die indische Vase", gab King zähneknirschend zu und nahm wiederum alle ins Visier. "Er hat einen Schalldämpfer benutzt."

"Wie unehrenhaft!" schnaubte Major Rook. "Früher kämpfte man noch Auge in Auge mit dem Feind, mit echten, ehrlichen Waffen ohne Hintergedanken. Wie damals in Bengalien, als ..."

"Sie haben recht, Mr. King", unterbrach ihn Reginald gekonnt, "alles deutet auf einen der Hausbewohner oder der Gäste hin."

"Fiel Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches in der Bibliothek auf?" fragte der Chief Inspector dankbar.

Als allgemeines Verneinen die Folge war, wechselte King das Thema: "Können Sie mir bitte berichten, wie Sie den heutigen Nachmittag bis zum Auffinden von Sir Donald zugebracht haben?"

"Nun", begann Reginald, "wir drei", er zeigte dabei auf Harrison und Virginia, "sowie Major Rook waren den ganzen Tag hier im Haus. Bei dem Regen wollte niemand einen Spaziergang über die Felder machen. Nach dem Essen spielte ich mit dem Major eine Partie Schach, bis Sir Donald auftauchte. Das war so gegen 14:30 Uhr, nicht wahr?" Major Rook nickte zustimmend. "Unsere Partie endete wenig später, und da ich wußte, daß Sir Donald selbst das Schachbrett haben wollte, ging ich in die Bibliothek und nahm mir ein Buch."

"Vater zog sich nämlich jeden Tag in seine Bibliothek zurück", ergänzte Harrison, "und bestand daruaf, parallel dazu eine Partie Schach zu spielen."

"Das hat mir John schon berichtet", stimmte King zu.

"Nachdem ich eine Weile gelesen hatte", fuhr Reginald fort, "kamen auch Virginia und Harrison in den Salon. Wir nutzten die Möglichkeit und begannen mit einer Partie Bridge."

"Weil es im Haus nur ein einziges Schachbrett gibt", vervollständigte King.

"Sehr bedauerlich", pflichtete Major Rook bei, "aber Sir Donald war in einigen Punkten doch ein wenig eigen. So sahen wir uns gezwungen, auf ein zwar angemessenes, aber weniger ritterliches Spiel zurückzugreifen."

"Sie haben nur ein Brett im Haus?" wunderte sich Peter. "Wieso denn das?"

Margaret lächelte schwach: "Sir Donald wollte verhindern, daß man während einer Partie parallel analysiert und sich dadurch einen unlauteren Vorteil verschafft."

"Mr. Bishop ist heute zum ersten Mal auf Knight-Castle", grinste Reginald, "denn bis vor zwei Monaten glaubte Sir Donald noch, sein Anwalt sei ein nur durchschnittlicher Vereinsspieler, da sein Club in der vierten Klasse rangiert."

"Und trotzdem hatte er Sie engagiert?" King war überrascht nach all dem, was er von John und Cathy gehört hatte.

"Sie haben sich ja schon ein gutes Bild von Sir Donald gemacht, Mr. King!" lachte Reginald. "Ich erinnere mich noch gut, wie er sich darüber geärgert hatte, daß es keinen Anwalt in Essex gibt, der gescheit Schach spielen kann. Er meinte dann, mit Mr. Bishop den Einäugigen unter den Blinden gefunden zu haben." Peter nahm diese Aussage gelassen hin. "Wie gesagt, vor zwei Monaten dann hatte er Besuch vom Vorsitzenden des hiesigen Schachvereins, und der klärte Vater darüber auf, daß Mr. Bishop früher einmal ein Spitzenspieler in der zweiten Klasse gewesen war."

"Ich mußte beruflich bedingt kürzer treten", entschuldigte sich Peter.

"Jedenfalls änderte dies sofort Sir Donalds Meinung", fuhr Reginald fort, "und bei nächster Gelegenheit lud er ihn für ein Wochenende hierher ein."

King atmete einmal tief durch, während er Sir Donald gedanklich in die Rubrik der allerseltsamsten Persönlichkeiten des Commonwealth einordnete. Dann wandte er sich wieder an Reginald: "Gut, wir waren bei Ihrer Bridge-Partie stehengeblieben. Was geschah dann?"

"Gegen 17 Uhr trafen Mr. Bishop und Miss Queen ein", übernahm Harrison das Reden. "Daraufhin beendeten wir unsere Partie Bridge. John wies unseren Gästen die Räume zu, und nach einer kurzen Erfrischung versammelten wir uns hier im Salon."

"Zum Plaudern!" rückte Major Rook zurecht. "Die Herren unterhielten sich über die Regierung und das Wetter, die Damen über die neuesten Modetrends. Sehr informativ!"

Harrison überhörte diesen Einwurf. "Punkt 18 Uhr zogen wir uns dann auf unsere Räume zurück, um uns für das Dinner umzukleiden."

"Punkt 18 Uhr?" wunderte sich King.

"John kam herein und wies uns auf die genaue Zeit hin", erläuterte Virginia mit einem leichten Lächeln, "und John irrt sich nie."

"Wann kamen Sie wieder herunter?" stellte King die nächste Frage.

"Ich habe mich 18:28 Uhr auf den Weg gemacht", gab Reginald Auskunft, "und dabei im oberen Flur Virginia, Miss Queen und Mr. Bishop getroffen. Wir sind gemeinsam in den Speisesaal gegangen."

"Und ich", setzte Harrison an, "war der Erste. Um 18:25 Uhr ging ich nach unten."

"Und Sie, Major?" wandte sich King an den Offizier.

"Ich habe gelernt, mich exakt an die Vorschriften zu halten!" Major Rook straffte seine Schultern ein wenig. "Wenn ich um 18:29 Uhr mein Zimmer verlasse, bin ich genau um 18:30 Uhr beim Dinner."

"Ist Ihnen zwischen dem Verlassen des Salons um 18 Uhr und dem Eintreffen im Speisesaal gegen 18:30 Uhr etwas Ungewöhnliches aufgefallen?" forschte der Chief Inspector, während er eine Seite in seinem Notizbuch umblätterte. "Ein Geräusch? Eine Person? Oder sonst etwas?"

Die Anwesenden dachten eine Weile nach, doch für sie schien alles seinen normalen Gang genommen zu haben. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte er in die Runde: "Können Sie mir hier auf diesem Brett die Partiestellung von Sir Donald und Cathy nach dem 22. Zug von Cathy zeigen?"

"Wie bitte?" entfuhr es Reginald. Harrison, Virginia und Peter starrten King überrascht an, Major Rook zog die Augenbrauen finster zusammen und in Margarets Gesicht stand die Neugierde.

"Was soll denn dieser Unfug?" kam es trotzig aus des Majors Richtung. "Spielen Sie überhaupt Schach?"

"Nur zum Zeitvertreib", räumte King ein, "so zwischen zwei Mordfällen." Das sollte eine zynische Bemerkung werden, er erntete aber allseitiges Verständnis. "Bekommen Sie die Stellung hin?"

"Nun ja", Reginald hatte sich wieder gefaßt, "da wir immer nur sporadisch an dem Brett vorbeikamen, denke ich, daß wir keine exakte Zugfolge angeben können", allgemeines Nicken im Raum. "Der 22. Zug, sagen Sie?" King nickte. "Das dürfte dann so ungefähr zu dem Zeitpunkt gewesen sein, als wir zum Umziehen nach oben gegangen sind."

"Können Sie diese Position aufbauen?" wiederholte sich King.

"Diese Partie hier ist noch nicht zu Ende!" konnte man Major Rook ärgerlich vernehmen.

"Glauben Sie denn, daß Ihnen dies bei der Aufklärung des Falles weiterhilft?" Aus Margarets Neugierde war echtes Interesse geworden.

"Die Position selbst nicht", gab King zu, "aber Cathy berichtete mir von einem eigenartigen Zwischenfall."

Auf einmal war eine knisternde Spannung im Raum zu spüren, während die sechs Personen unverwandt den Chief Inspector anblickten. Ein paar Sekunden lang tat sich nichts, die Zeit schien still zu stehen. Als Reginald jedoch begann, die edlen Figuren sorgfältig vom nicht weniger edlen Brett zu räumen, standen auch Virginia, Margaret und Peter auf und gruppierten sich um den Tisch herum.

Nach einigen kurzen Diskussionen aller Beteiligten hatte sich eine Stellung auf dem Brett herauskristallisiert, mit der man zufrieden war. Reginald schaute wieder zu King hoch und sagte: "So stand die Partie um 18 Uhr."

King beugte sich etwas näher über das Brett und begann die Positionen der einzelnen Figuren mit Obst und Gemüse zu vergleichen. Nach einigen Minuten angestrengten Nachdenkens, in denen man nichts außer dem unterdrückten Ausatmen der Anwesenden vernehmen konnte, hatte sich in seinem Kopf ein Bild geformt. Er erkannte, daß es sich um diese Stellung vor dem 21. Zug von Cathy handeln mußte, und er konnte rekonstruieren, wie er zu der Stellung gelangen würde, die ihm Cathy gezeigt hatte. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, er fühlte sich doch nicht so dumm wie noch einige Minuten zuvor.

"Haben Sie etwas entdeckt?" durchbrach Margaret die Stille, als sie Kings Reaktion bemerkte.

"Eine interessante Position", kommentierte King gewichtig, "Schwarz hat durch ein positionelles Opfer die Initiative an sich gerissen!"

"Genau!" In Virginias Stimme schwang Überraschung und Achtung mit. "Vater liebte scharfe Gefechte."

"Mit offenem Visier!" ergänzte Major Rook pathetisch. "Keine Hinhaltetaktik, keine Grabenkämpfe, kein feiges Verschanzen! Wie damals, als wir Seite an Seite im indischen Dschungel ..."

"Fehlt da nicht ein Schildchen?" fragte King unvermittelt.

"Sind alle da", meinte Harrison nach einem kurzen Blick in die Figurenkiste. "Alle vier."

"Nein", widersprach King, "ich meine neben dem Brett."

"Ist das eine von euren Sonderregeln, von denen mir Virginia erzählt hat?" Peter klang leicht amüsiert.

"Allerdings", bestätigte Harrison. "Damit wird Schach und Gardez angesagt. Vom Rest der Regeln wirst Du jetzt verschont bleiben."

"Ha!" warf Major Rook entrüstet ein. "Kaum ist Sir Donald entschlafen, schon wird an den ehernen und ehrenhaften Traditionen gerüttelt!"

"Nun ja", ließ sich Margaret vernehmen, "nach Schachspielen ist mir jetzt auch nicht zumute. Bringt uns das denn jetzt weiter?" Wobei die mit ihrem Zeigefinger in Richtung des Elfenbeinbrettes wies.

"Eigentlich nicht", mußte King zugeben. "Ich hatte gehofft, daß die Partie schon in einem späteren Stadium angelangt war, als Sie zum letzten Mal vorbeikamen."

"Es ist nicht der 22. Zug?" vermutete Harrison.

"Nein", erwiderte der Chief Inspector sichtlich enttäuscht, "es sind erst 20 Züge absolviert. Welche Stellung war denn auf dem Brett, als Sie wieder herunterkamen?"

"Die Partie war beendet", antwortete Harrison, "die Figuren standen wieder auf ihren Ausgangsfeldern."

"Dann kann ich mit Cathys Aussage leider auch nichts anfangen."

"Wie bedauerlich!" rief Margaret nicht weniger enttäuscht. "Ich dachte schon, Sie könnten das Rätsel heute noch lösen!"

"Ohne Sie kränken zu wollen, Miss Queen", stellte Major Rook emotionslos fest, "aber Sie sind nicht weniger verdächtig als jeder andere hier in diesem Haus, auch wenn Sie ein deutliches Interesse an der Aufklärung dieses Verbrechens zeigen." Margaret blieb der Mund offen stehen. "Wir wissen hier sehr wohl, daß Sie ein ausgezeichnetes Motiv für die Tat hatten!"

"Aber, Major", entfuhr es Virginia, "wie können Sie so etwas sagen?"

"Was meinen Sie damit, Miss Knight?" Major Rook wirkte leicht irritiert. "Es liegt auf der Hand, daß einer von uns, Cathy oder John den Mord verübt hat. Nachdem der Tathergang geklärt ist und der Täter offenbar nicht direkt ausfindig gemacht werden kann, durchleuchtet die Polizei normalerweise die vorhandenen Motive, nicht wahr, Chief Inspector?"

"Das entspricht durchaus unserer Vorgehensweise, Major", bestätigte King. "John erwähnte schon, daß ...", er durchblätterte pro forma noch einmal seine Aufzeichnungen, während es wieder still im Raum wurde, "daß jeder der acht sich im Haus befindenden Personen einen Grund hatte, Sir Donald zu ermorden."

Während Virginia, Margaret, Harrison und Peter den Chief Inspector anstarrten, zeigte sich in Major Rooks Augen ein triumphierender Blick, während Reginalds Mundwinkel zuckten.

"Unser lieber, guter John!" grinste er dann. "Pflichtbewußt bis ins letzte Detail. Und er hat sich selbst nicht ausgenommen?"

"Nein, das hat er nicht", King wandte sich ganz Reginald zu, "er fürchtete um seinen Arbeitsplatz und seine Pension. Wäre er unehrenhaft entlassen worden, und das trifft auch auf Cathy zu, wäre es ihm schwer gefallen, eine neue Anstellung zu finden."

"Zurecht!" bekräftigte Major Rook. "Er wußte, worauf er sich eingelassen hatte, als er hier seine Stelle antrat. Sir Donald hat mir einmal seinen Arbeitsvertrag gezeigt, da steht der entsprechende Passus an erster Stelle!"

"Ob der so gültig ist?" warf Margaret ein.

"Wenn er unterschrieben ist", stellte Peter achselzuckend fest, "läßt sich daran nicht viel rütteln. Wenn Schachspielen als übliche Tätigkeit betrachtet wird ... solche ungewöhnlichen Passagen finden sich in manchen Arbeitsverträgen."

"Da wir nun Johns und Cathys Motive geklärt haben", kam King wieder auf das eigentliche Thema zurück, "hielte ich es für angemessen, wenn Sie mir die Ihrigen", er machte eine Kunstpause ließ dabei einmal seinen Blick über alle Anwesenden schweifen, "nennen würden."

Es herrschte zunächst ein betretenes Schweigen.

"Vielleicht fangen Sie an, Major?" packte ihn King bei der Ehre.

Erneut strafften sich die Schultern des Offiziers, und sein herausfordernder Blick traf den des Chief Inspectors. "Ich habe nichts zu verbergen, Chief Inspector!" Seine Augen funkelten. "In der Tat hat Sir Donald Schande über meine Familie gebracht!"

"Inwiefern?"

"Meine Tochter Elaine und Master Reginald hatten beschlossen, den Bund der Ehe einzugehen", antwortete Major Rook, zögerte dann jedoch etwas.

"Und Sir Donald war damit nicht einverstanden?" vermutete King.

"Elaine hat ihr Bestes getan", schaltete sich Virginia ruhig ein, "aber trotz einer Vielzahl von Privatstunden bei namhaften Meisterspielern konnte sie ihre Spielstärke nicht entscheidend verbessern." Kings Augen wurden größer, aber immerhin hatte er es sich schon abgewöhnt, den Mund aufzuklappen. "Sie ist eine sehr kreative Person, die sich in dieser abstrakten Materie nie zurecht gefunden hat."

"Nach der Ablehnung durch Sir Donald", übernahm wieder Major Rook, "war sie zutiefst verletzt und unglücklich. Sie ist bis heute nicht darüber hinweggekommen, so sehr hat ihr dies zugesetzt."

"Und trotzdem waren Sie häufiger Sir Donalds Gast?" wunderte sich King.

"Er hatte zwar einen sehr eigenen Ehrbegriff", erläuterte der Major, "aber einen sehr ausgeprägten." Während einer kurzen Pause atmete er tief ein. "Im übrigen habe ich ihm bei jedem meiner Besuche schriftlich die Aufforderung zum Pistolenduell überreicht." Jetzt klappte Kings Mund doch auf. "Er hat leider jedesmal abgelehnt. Er sagte, er müsse zunächst sein Schachbuch beenden, anschließend stehe er mir gerne zur Verfügung."

King wußte nicht, was er sagen sollte. Er schaute auf sein Notizbuch, das er wieder einmal versehentlich zugeklappt hatte, öffnete dieses sorgfältig und machte seine Eintragungen.

"Wir drei", hörte er Reginald sagen, blickte auf und registrierte, daß der Sprecher auf Harrison und Virginia deutete, "haben alle den gleichen Grund gehabt, Sir Donald ins Jenseits zu befördern."

"Tatsächlich?" King wurde wieder neugierig. "Das hört sich ja nach einer Erbschaft an."

"So ist es, Mr. King", sagte Harrison, "er hatte vor, uns alle zu enterben."

"Ach was!" fuhr es King heraus.

"Sie haben sicherlich genug von Vater gehört", ließ sich Harrison nicht beirren, "um zu verstehen, daß die Notwendigkeit schachlichen Erfolgs auch für seine Familie Grundvoraussetzung war." King nickte resigniert. "Vor drei Wochen sind wir mit dem örtlichen Schachverein aus der dritten in die vierte Klasse abgestiegen."

"Unser Wagen hatte einen Defekt", schilderte Virginia den betreffenden Tag, "und wir standen am Sonntagmorgen auf der Straße nach Plaskett. Bis wir schließlich am Spielort eingetroffen waren, hatten wir drei schon die Zeit überschritten und alle verloren. Diesen Rückstand konnte unser Team natürlich nicht mehr wett machen, und so nahm das Drama seinen Lauf."

"Und Sir Donald hat daraufhin das Testament geändert?" konnte es King nicht fassen.

"Noch nicht", meldete sich Peter zu Wort, "er ließ mich an diesem Wochenende kommen, um ein neues Testament aufzusetzen."

"Hatte er schon eines verfaßt", forschte King, "und wollte es Ihnen zur Durchsicht zeigen, oder benötigte er dazu Sie wegen der juristischen Floskeln?"

"Das kann ich Ihnen nicht sagen, Chief Inspector", bedauerte der Anwalt, "alles, was ich weiß, ist, daß wir es morgen beurkunden sollten."

King strich sich mit der linken Hand über das Kinn und machte anschließend weitere Eintragungen.

"Und weshalb hatten Sie ein Motiv?" setzte King dann direkt bei Peter an.

"Nun", räusperte sich Peter, "es sollte gleichzeitig meine letzte Amtshandlung sein. Er hat mich zum Ende des Monats entlassen. Er hatte rechtlichen Widerspruch gegen die Wertung des verlorenen Abstiegsspiels einlegen lassen, aber natürlich haben wir vor dem Turniergericht verloren." Diesmal hatte King sich besser im Griff. "Sein Antrag wurde sofort abgelehnt."

"Wobei Sir Donald betonte", fuhr Reginald fort, "daß ihm ein Beweis vorliegt, daß es sich bei dieser Ablehnung um eine Absprache zwischen den beiden Rechtsvertretern handelt. Dies hätte zum Ausschluß aus der Anwaltskammer geführt."

"Wissen Sie, um was für eine Art Beweis es sich handelt?" fragte King.

"Nein", schüttelte Reginald den Kopf, "das hat er nicht gesagt."

"Wobei dieser Fall zu eindeutig lag", fügte Peter hinzu, "als daß eine Absprache für die Gegenseite notwendig gewesen wäre."

"Im Zweifelsfall", schaltete sich Margaret plötzlich ein, "wäre es so wie immer gelaufen: Seine unsinnigen Anschuldigungen eskalieren bis vor das Oberste Britische Turniergericht, sorgen für eine Menge Wirbel und enden mit einer Niederlage. Etwa alle sechs Monate führte er solche Possenspiele auf und klagte gegen die Verletzung seiner Ehrenrechte", King konnte nicht verhindern, daß er kurz resignierend den Kopf schüttelte, "ohne Aussicht auf Erfolg. Ich glaube, er hat nicht einen Rechtsstreit gewonnen."

"Und weshalb hatten Sie etwas gegen Sir Donald, Miss Queen?" Nach all dem, was er bislang gehört hatte, schien es King eher eine rhetorische Frage zu sein.

"Er ist ... war der Herausgeber der Schachzeitung ‚Essex Chess Review', und ich war bis vor einem halben Jahr bei ihm beschäftigt", erklärte Margaret. "Wir verbrachten manchen interessanten Abend hier beim Schachspiel, und ich dachte, er würde meine Arbeit wirklich schätzen."

"Er tat es nicht?"

"Als unsere Konkurrenz ‚Essex Chess Journal' uns in der Gunst des Schachpublikums überflügelte", schwang einige Bitterkeit in Margarets Worten, "wurde ich postwendend gefeuert."

"Sir Donald hielt das ‚Journal' für ein unseriöses Revolverblatt", Major Rooks Augen blitzten kampfeslustig, "und das völlig zurecht! Wenig Gehalt, viele Bilder und seichte Geschichten. Kaum Analysen. Eine Schande für die Schachpresse!"

"Er ließ mich sogar öffentlich diffamieren", übernahm Margaret wieder das Wort, "so daß ich bislang keine Anstellung finden konnte und mich als freie Schachjournalistin irgendwie durchschlagen muß." Ihr Gesicht nahm einen zufriedeneren Ausdruck an. "Immerhin war er vertraglich daran gebunden, daß mir die Erstrechte an der Rezension seines Buches zustanden. So mußte er ertragen, daß ich hin und wieder hier vorbeischaute, aber natürlich hat er seither keine Partie mehr mit mir gespielt."

Margaret verstummte, und es trat Stille ein. Der Chief Inspector ging noch einmal seine Notizen durch, während ihm die übrigen Anwesenden mit mehr oder minder großem Interesse zuschauten.

Acht Verdächtige und acht Motive. Dazu einige Details und Aussagen, die auf den ersten Blick nicht zusammenpaßten. Eine Schachpartie, die King wieder und wieder zum Nachdenken brachte. Die kritische Stellung auf dem Küchentisch.

Und plötzlich begriff der Chief Inspector, was ihn die ganze Zeit schon gestört hatte, ohne daß er es greifen konnte. Er schlug sich mit der flachen Hand so laut an die Stirn, daß die anderen zusammenfuhren.

"Entschuldigen Sie bitte, meine Damen und Herren", beeilte sich King zu sagen, "aber da ist noch etwas, das ich genauer untersuchen muß."

"Und das wäre?" fragte Reginald verwundert.

"Darf ich mir einmal kurz das Schachbrett ausleihen?" kam die Gegenfrage.

"Na ... natürlich." Reginald sah seinen Bruder verwirrt an. "Wozu brauchen Sie es denn?"

"Das weiß ich noch nicht ganz genau", gestand King, während er sein Notizbuch verstaute, "aber ich möchte zumindest noch eine Aussage überprüfen."

"Damit?" Virginias Sanftmut war völligem Unverständnis gewichen.

"Ja, ja", antwortete King leicht geistesabwesend, "Major, würden Sie mir bitte helfen, das Brett in die Bibliothek zu tragen?"

"Gewiß, Chief Inspector." Selbst Major Rook wirkte verunsichert, als er das schwere Brett hochhob und mitsamt den Figuren zur Bibliothek trug. King ging ihm voraus, öffnete die Tür zum Gang, nahm drei Schritte, öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ den Offizier eintreten. Nachdem dieser das Brett vorsichtig auf dem Schreibtisch plaziert hatte, verließ er die Bibliothek wieder.

King holte sein Notizbuch hervor und begann auf dem Brett zu hantieren. Er benötigte beinahe zwei Stunden, ehe er sich seiner Sache sicher war und seine Anmerkungen eingetragen hatte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte seine Vermutung, daß es schon sehr früh am Morgen war, dennoch wirkte der Chief Inspector fast schon froh gelaunt.

Als er in den Salon zurückkehrte, schenkte John gerade dem sichtlich übermüdeten Reginald einen Kaffee ein. Virginia, Margaret, Peter und Harrison schliefen auf dem Sofa bzw. in den Sesseln, während Major Rook scheinbar immer noch frisch aus dem Fenster schaute.

"Ah, Chief Inspector", wurde King auch sofort von letzterem angesprochen, "das hat jetzt aber ganz schön lange gedauert! Sie sehen auch aus, als ob Sie Schlaf vertragen könnten."

Harrison blinzelte unsicher und Peter schreckte auf. Virginia und Margaret hingegen mußten erst von John vorsichtig geweckt werden.

"Das ist wohl wahr", antwortete King, "aber bei einem Mord verfolgt man die Spur am besten, solange sie nicht verwischt ist."

"Hat Sie denn das Schachspiel weitergebracht?" wollte Reginald wissen, wobei die Zweifel in seiner Stimme nicht zu überhören waren.

"Äh ... na ja, wie soll ich mich ausdrücken?" wand sich King etwas. "Diese eine Bemerkung von Cathy, von der ich vorhin gesprochen hatte ... ich will ehrlich sein, ich kann sie nicht richtig deuten." Er schaute zum Major. "Würden Sie bitte das Brett wieder aus der Bibliothek holen, Major?"

 

Weiterlesen: Schach-Krimi Teil 4


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