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Ist das noch Theorie?"

Ein unterhaltsamer Simultan-Nachmittag mit Peter Swidler

von Harald Fietz und Robert Miklos, Juni 2000

zu den Schachtexten


 

Swidler-Simultan Darmstadt 2000

Super-Großmeister Peter Swidler (links) beim Simultan gegen Robert Miklos

 

   Die Frankfurt Chess Classic 2000 bedeutet eine Ansammlung der Superstars der Schachszene. Die goldene Gelegenheit, in den Tagen zwischen den Events einen der Cracks für ein lokales Ereignis anzuheuern. Dies dachte sich auch die Buchhandlung Gutenberg im Zentrum von Darmstadt und engagierte den dreifachen russischen Landesmeister Peter Swidler für ein Open-Air-Simultan vor dem Geschäft am Luisenplatz. Obwohl es neues Terrain für die Inhaberin Gisela Hoffmann-Sigmund bedeutete, wagte die Geschäftsfrau, erstmals in den Schachsport als Attraktion zu investieren. Und sie wurde - trotz der hochsommerlichen Temperaturen - nicht enttäuscht. 16 Amateure - darunter eine Dame und die Berichterstatter - nahmen an den Brettern unter dem Freiluftzelt Platz, um sich zeigen zu lassen, was die "neue Generation" der russischen Schachschule auf dem Kasten hat.

 

Swidler-Simultan Darmstadt 2000

Im Sitzen geht's leichter: Super-Großmeister Peter Swidler versuchte, sich an die Theorie zu erinnern

 

   Der St. Petersburger Peter Swidler erwies sich dabei nicht nur als ein Könner seiner Materie, sondern auch als Entertainer. Jederzeit einen ketzerischen oder aufmunternden Spruch auf dem Lippen, waren wohl die meisten Spieler über den persönlichen Umgangston in englischer Sprache erstaunt. Respektvoller Beifall am Beginn der Veranstaltung wich bald der gemeinsamen Stimmung, dass sich hier alle Beteiligten versammelt hatten, um - im Rahmen ihrer Möglichkeiten - einen unterhaltsamen Schachnachmittag zu verbringen. Ein Ambiente, das nicht nur die Schachkenner anzog, sondern auch Vorbeieilende zum Stopp "verleitete". Mancher Passant gab seiner Begleitung oder anderen Zuschauern seine Kenntnisse über das Spiel im Speziellen und das Schauspiel in Allgemeinen preis oder blieb einfach nur fasziniert ob der dargebotenen Vorstellung stehen. Für die Vereinsspieler allerdings bot die Begegnung eine seltene Gelegenheit, einen der weltbesten Schachspieler leibhaftig herauszufordern und ihm seine Lieblingsvariante vorzusetzen.

 

Swidler-Simultan Darmstadt 2000

Peter Swidler (links) plauderte locker über das entstandene Endspiel mit Robert Miklos

 

   Der Großmeister fand dabei die richtige Balance zwischen ernsthaftem Wettbewerb und locker-instruktiver Lehrstunde. Insbesondere Skandinavisch-Fans kamen auf ihre Kosten. Diese Eröffnung spaltet Schachspieler seit eh und je in zwei Lager, und unter der absoluten Weltspitze taucht dieser Eröffnung eher selten auf. Doch Simultanveranstaltungen sind besondere Ereignisse, in denen der Amateur die Chance hat, das Motto der Auseinandersetzung zu bestimmen. Da verwundert es nicht, dass Peter Swidler an einigen Brettern zu Scherzen aufgelegt war. "Ist das noch Theorie?" lautete sein Einwurf, als ihm "seltsame" Züge aufgetischt wurden. Skandinavisch-Fans erwiesen sich bei solch höflichen Nachfragen als besonders renitente "Glaubensbrüder": "Ja, das steht in meiner Skandinavisch-Bibel von Wahls drin." Darauf mimte der russische Großmeister den Empörten: "Das geht aber nicht, gegen einen Großmeister wollte ich hier nicht spielen!" Brauchte er auch nicht, denn fast alle Partien brachten das erwartete Ergebnis. 15:1 lautete das überzeugende Endergebnis zu Gunsten des Weltranglisten-20.

   Nur Christian Schramm vom Schachclub Obernau bei Augsburg (ELO 2330) zeigte als Ratingbester im Feld, wie lebensfähig die Drachenvariante ist. Solcherlei Widerstand verleitete den Russen zum Scherzen. "Es sollte verboten werden, Theoriezüge zu spielen", forderte er kategorisch. Wohlwissend, dass dies für die moderne Schachwelt charakteristisch ist, fügte er wenig später hinzu: "Ich sollte die Eröffnungen zwar besser kennen, aber ich bin ja auch nur ein einfacher Mensch." So haben letztlich alle einige Lehren aus der gelungenen Veranstaltung gezogen - Applaus für den Großmeister zum Abschied.

 









Stellung nach:

Swidler (2670) - Miklos (1885) [B01]
Simultan Darmstadt, 20.06.2000
[Anmerkungen von Robert Miklos]

1.e4 d5 Und schon wieder Skandinavisch gegen einen Supergroßmeister! 2.exd5 Dxd5 3.Sc3 Da5 4.d4 c6 5.Lc4 Sf6 6.Sf3 Lf5 7.Ld2 e6 8.Sd5 Dd8 9.Sxf6+ Dxf6 10.De2 bei Wahls steht: "das ist zweifelsfrei der Härtetest der Variante. Sein Hauptvorteil besteht in der Vorbereitung des Zentrumsdurchbruchs d4-d5" 10...Lg4 der Zug ist nach Wahls eher fragwürdig, stattdessen wird 10..Sd7 empfohlen. [Vier Bretter weiter vorne wurde ein noch schlechterer Zug gespielt: 10...Le7 11.Lg5 Dg6 12.Lxe7 Kxe7 und Weiß stand besser; Swidler spielte danach ungenau weiter, gewann aber trotzdem.] 11.d5 Lxf3 12.gxf3 cxd5 13.Lxd5 Sc6 14.Lxc6+ bxc6 15.De4 Tc8 16.0-0-0 Überraschenderweise steht das alles schon bei Wahls drin! Und die schwarze Stellung ruft beim deutschen Großmeister blankes Entsetzen hervor! 16...La3 17.c3 Lc5 18.Thg1 0-0 Und hier wusste Swidler nicht mehr weiter. Er sagte noch ganz locker nebenher, dass er diese Stellung schon in einer Schachzeitschrift gesehen hätte, in der Schwarz sich den vergifteten Bauern auf f2 geschnappt hatte. Die Rochade war als eine Verbesserung angegeben worden. Da es im Stehen nicht weiterging, schnappte er sich, zum Entsetzen des Simultanspielers, einen Hocker, setzte sich hin und überlegte (siehe erstes Foto) ... [18...Lxf2?? 19.Lg5 Dg6 20.Dxc6+!! Txc6 21.Td8#] 19.Lg5 Dg6 20.Dh4 Kh8 Swidler spielt schlechter - Wahls gibt aber auch zu, auf Fritz vertraut zu haben. 21.Lf4 [21.b4! und es ist vorbei mit Schwarz: 21...Lb6 (21...Tb8 22.Lf4) 22.Le7 Df5 23.Txg7! Kxg7 24.Tg1+ Dg6 25.Txg6+ fxg6 26.Lxf8+ Txf8] 21...Df6 [21...Df5 Swidler schlug nach der Partie diesen starken Zug vor. Ich hatte ihn kurz erwogen, aus "offensichtlichen" Gründen allerdings sofort verworfen. 22.Tg5 Lxf2!! und Schwarz steht besser!] 22.Dxf6 gxf6 23.Le3 danach entwickelt sich alles ziemlich forciert. 23...Lxe3+ 24.fxe3 Tcd8 25.Txd8 Txd8 26.Td1 Txd1+ 27.Kxd1 Dieses Bauernendspiel ist wegen der schlechten schwarzen Bauernstruktur verloren. 27...Kg7 jetzt wäre Kc2 nebst Königsmarsch nach a6 genauer gewesen. 28.b4 Kf8 29.c4 Ke7 30.Ke2 Kd6 31.Kd3 Hier wunderte sich Swidler, dass er dieses Endspiel als eine trockene technische Angelegenheit angesehen hatte. Auf den Hinweis, es ähnele einem berühmten Bauernendspiel von Rubinstein (Rubinstein gegen Cohn, St. Petersburg 1909), antwortete er lächelnd: "Nein, nein, das dauert zu lange, mit dem König nach h6 zu laufen. In der Zwischenzeit kommt ein Gegenspiel mit c5 oder so." Ich bedankte mich für diese kleine Hilfestellung - geholfen hat es trotzdem nicht. 31...Kc7 32.c5 Kb7 33.Kc4 Ka6 34.e4 Kb7 35.f4 Kc7 36.f5 Kb7 37.a4 Kc8 38.b5 Kc7 39.Kb4 Kb7 40.Ka5 h6 41.h3 h5 42.h4 e5 43.Kb4 Kc7 44.bxc6 Kxc6 45.a5 Der Gewinnweg verläuft nach dem altbekannten Muster. [45.a5 Kb7 46.Kc4 Kc6 47.a6 Kc7 48.Kd5 Kd7 49.c6+ Kc8 50.Kd6 Kd8 51.c7+ Kc8 52.Ke7 Damit war die letzte Partie nach mehr als drei Stunden vorbei.] 1-0

Mehr zu den Frankfurt Chess Classic gibt es in der Rubrik Figo.


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