Berlin ist eine Reise wertSchachbundesliga in Berlinvon Harald Fietz, Februar 2001 |
Ende Januar 2001 fand die Bundesligarunde statt, die die zweite Hälfte der Saison 2000/01 einläutete. Jetzt galt es das Fundament zu legen, welches ein sorgenfreies Ausklingen der Spielzeit ermöglicht. Entsprechend dieses Leitgedankens fuhren die Berliner Gäste, SK Tegernsee und König Plauen, volles Geschütz auf. Dem punktlosen Aufsteiger König Tegel wollte man möglichst alle Mannschaftszähler entführen und gegen Schachfreunde Neukölln galt das bayerische Bonmot "Schaun mer' mal".
Austragungsort war das "Hotel am Borsigturm", ein Spielort, der sich 1999 anlässlich des gemeinsamen Jubiläums von König Tegel und SK Kreuzberg bereits als Austragungsstätte für ein GM- und ein IM-Turnier bewährt hatte. Inzwischen hat das Hotelmanagement gewechselt, doch dem Mannschaftsführer von König Tegel, Manfred Rausch, war es gelungen, die neue Geschäftsführung für Schach zu überzeugen. Jeder, der in punkto Schach ähnliches in der Geschäftswelt schon einmal versucht hat, wird wissen, dass dies keine einfache Aufgabe bedeutete. Wenngleich die Austragungsstätte - bedingt durch die reizvoll-eigenwillige Architektur des Hotels in Form eines kreisförmigen Baus - nicht optimal den sensiblen Ansprüchen von Turnhallen und Schulaulen verwöhnter Schachspieler entsprochen hat (siehe die stimmungsvolle Schilderung von GM Stefan Kindermann über die weiten Wege zu den Toiletten auf www.chessgate.de) -, so konnte hier doch ein umkämpftes Bundesligawochenende erlebt werden. Abgesehen vom letztlich glatten Ergebnis der Plauener gegen die Tegeler waren es Begegnungen, die abwechslungsreich verliefen. Und das will der Zuschauer schließlich sehen!
Die Samstagsrunde führte das Mittelfeldduell SK Tegernsee mit den Schachfreunden Neukölln zusammen. Das unentschiedene Resultat verschleiert die Brisanz des Kampfes. Der Hauptstadtverein musste dabei ohne GM Sergej Mowsesjan auskommen, der eigentlich schon eine Woche zuvor bei den Runden der österreichischen Staatsliga eine Auszeit nehmen wollte, aber diesmal wirklich ernst machte und sich eine schöpferische Pause gönnte. Der Aufrücker GM Igor Stohl hatte am Spitzenbrett keinen leichten Stand und wurde in einem theoretisch bedeutsamen Grünfeld-Inder von seinem Namens- und Titelkollegen Igor Khenkin überspielt. Mit frühen Remisen an Brett zwei und drei wurde der Druck auf die hinteren Mannschaftsbretter verlagert. Hier entglitt FM Henrik Rudolf eine optisch solide Stellung gegen eine sachlich nüchtern vorgetragenen Caro-Kann-Verteidigung der einzigen Dame im Einsatz. Ohnehin schien sich die Frauen-Großmeisterin Ketino Kachiani-Gersinska im Hotel am Borsigturm wohlzufühlen, denn sie spielte - schon wie anno 1999 in erwähntem GM-Turnier - mit leichter Hand und sollte am Ende dieses Bundesligawochenendes in Berlin - neben GM Alexander Beljawski - die einzige Akteurin sein, die zwei Punkte bilanzieren konnte. Der Mannschaftskampf endete 4:4, weil die Neuköllner Mittelachse mit IM Stellan Brynell und IM Martin Borriss zuschnappte. Besonders der Schlussakkord des Schweden mit der Trumpfkarte verbundener Freibauern war sehenswert.
Das zweite Samstags-Duell zwischen dem ausrichtenden Verein und den sächsischen Gästen aus Plauen verlief einseitiger. Nachdem alle Eröffnungswirren überstanden waren, konnten die Vogtländer an keinem Brett ernsthafte Verlustgefahr vermelden. Beachtenswert bei der Tegeler 1,5:6,5 Schlappe war der nicht alltägliche schwarze Springermarsch in der Partie zwischen dem polnischen GM Jacek Gdanki und FM Dirk Paulsen. Ein fehlerhaftes Bauernopfer öffnete jedoch die Einbruchsschneisen für die weißen Figuren. Mehr schwitzen musste Bundestrainer GM Uwe Bönsch, der mit einem Minusbauern im Turmendspiel IM Fabian Lipinsky entwischte. Die restlichen Partien waren Bundesliga-Alltag und nahmen fast alle den erwarteten Verlauf.
Auch am Sonntag schienen die Nordberliner zunächst einer weiteren Enttäuschung entgegenzusehen, denn nach zwei Stunden konnte der jüngst zum Großmeister gekürte Robert Rabiega und Ulf von Herman bereits gemütlich beim Kaffee zusammensitzen. Der deutsche Meister hatte sich früh mit Igor Khenkin auf die Punkteteilung geeinigt und ward damit vor dessen Hüsteln verschont. Sein Mannschaftskollege sinnierte derweil über eine neue rekordverdächtige Partie: Hatte er bereits 1999 zum Auftakt der Deutschen Einzelmeisterschaft in Altenkirchen gegen GM Robert Hübner nach 11 Zügen resigniert, so musste sich GM Markus Stangl heuer vier Züge länger "plagen". Da beide Pannen mit den weißen Steinen passierten, erkundigte sich der Pechvogel bereits bei seinem Mannschaftskollegen, ob man gemeinsam e4-Eröffnungen büffeln könne. Ins Buch der Rekorde wird er allerdings kaum kommen, denn in der Saison 1995/96 trug sich in der höchsten deutschen Spielklasse die folgende Begegnung zwischen dem Tübinger Ellinger und Lendtrodt von München 1836 zu: 1.d4 d5 2.Sf3 Sf6 3.Lg5 Se4 4.Lh4 c5 5.c3 Db6 6.Db3 Dh6 7.Dxd5 Dc1# Welch ein Trost für alle Patzer!
Da sich zwischenzeitlich Dirk Paulsen und FM Oliver Zierke ihren zweiten Nullen des Wochenendes näherten, konnte nur ein Wunder helfen. Die Erleuchtung kam FM Jörg Pachow in der wohl "irrsten" Bundesligapartie der bisherigen Saison. Zunächst galt es Haltung zu bewahren, denn wer käme nicht aus dem Gleichgewicht, wenn der Gegner seinen h1-Turm im 11. Zug auf c3 parkt? Der Zug 20.- Lc4 leitete die kühne Kombination ein, an deren Ende ein glatter Mehrturm stand. Doch es blieben letztlich noch einige weiße Bauern auf dem Brett, die das Leben erschwerten. Aber es reichte nicht für GM Henrik Teske, ebenso wenig für den französischen GM Christian Bauer und IM David Gross, die beide gegen IM Mladen Muse bzw. FM Sascha Lorenz die Waffen niederlegen mussten. Damit stand es 3,5:3,5 und Fabian Lipinsky hatte wieder einen Mehrbauer in einem Turmendspiel. Doch die günstige Konstellation drei gegen vier Bauern mündete in ein Endspiel Dame und Bauer gegen Dame, welches der in Österreich lebende israelische GM Waleri Beim dank seiner günstig postierten Majestät unentschieden halten konnte. König Tegel hatte die goldene Chance zum ersten Mannschaftssieg verpasst und vom Tabellenende konnte man sich auch nicht lösen, da die Mitkonkurrenten ebenso ihre ersten Zähler verbuchten.
Noch brauchen Abstiegsnöte den Schachfreunden Neukölln keine grauen Haare zu bescheren, aber nach der 2,5:5,5 Abfuhr gegen die "Plauener Spitzen" werden sie bei diesem Ausdruck sicher nicht an ein Textilprodukt denken. Die sächischen Nachfolger des SK Dresden in der Schachbundesliga waren der große Gewinner des Wochenendes und dürfen bereits für die kommende Saison planen. Mit 5:1 war das Übergewicht an den vorderen Bretter eklatant. IM Dimitri Bunzmann reichte GM Klaus Bischoff schon nach 24 Zügen die Hand zur Aufgabe: Schlechte positionelle Arbeit, die die Anderen ansteckte. So konnte zunächst nur der zweite Schweden-Export, IM Johann Hellsten, seine Stellung auf Sieg drücken, während Henrik Rudolf an Brett acht gerade noch den gegnerischen Freibauern entschärfte. Doch an den übrigen Brettern gaben die positionellen Vorteile oder das Zeitnotgefecht den Ausschlag für die Gäste. Einzig IM Stefan Berndt erlebte einen Stellungsumschwung in seiner Partie gegen Jacek Gdanski, nachdem ihm ein wichtiger Bauer abhanden gekommen war. Die Neuköllner können von Glück sagen, dass der Berichterstatter Stefan letzten Sommer nicht getroffen hat, als die Standortwahl für sein juristisches Zusatzjahr in Europarecht gefällt wurde. Aberdeen oder Maastricht hießen die Kandidaten und selbstverständlich wären die Vorzüge des schottischen Bildungssystems in rosa Farben gemalt worden, wenngleich die niederländische Fakultät natürlich die renommiertere Adresse ist und letztlich auch die Anfahrten zur Bundesliga erträglich macht. Diesmal reichte der volle Punkt an Brett drei nicht aus.
Damit bleibt erneut zu bestätigen, dass Berlin auf und neben dem Schachbrett eine Reise wert ist und Gästen gerne volle Punktekoffer übergeben werden. Schließlich haben nicht nur die Politiker der Stadt jetzt auch die Praxis der direkten Übergabe von Zuwendungen entdeckt. Liebe Solinger und Gelsenkirchener bringt im März die Sektflaschen doch gleich mit, vielleicht besorgen die Berliner auch ein paar Gläser - helau zusammen!
Ein paar interessante Partien:
Die Partien zum Download (pgn)
|
Khenkin,I (2633) - Stohl,I (2578) [D85]
|
|
Brynell,S (2484) - Beim,W (2528) [B08]
|
|
Gdanski,J (2557) - Paulsen,D (2431) [B06]
|
|
Lipinsky,F (2362) - Bönsch,U (2558) [A47]
|
|
Berndt,S (2478) - Gdanski,J (2557) [C16]
|
|
Beim,W (2528) - Lipinsky,F (2362) [A13]
|
|
von Herman,U (2357) - Stangl,M (2479) [D97]
|
|
Teske,H (2463) - Pachow,J (2297) [A45]
|
|
Lorenz,S (2298) - Gross,D (2484) [B23]
|
|
Kachiani-Gersinska,K (2448) - Zierke,O (2297) [A63]
|