Heiter fürchterlich gewütetViktor Kortschnoi mag keine unausgekämpften Partienvon Harald Fietz, Fotos aus dem Archiv Harald Fietz, November 2001 |
Der 9. November 1981 war ein miserabler Tag in Meran - zumindest aus Sicht von Viktor Kortschnoi. In der 14. Partie seines WM-Matches mit Anatoli Karpow gab er in schlechter Stellung seinen Zug ab und am folgenden Tag ohne Wiederaufnahme die Stellung. Er geriet mit 2-5 in Rückstand und nach 18 Spielen endete der letzte große Anlauf auf den WM-Thron.
Der 9. November 1989 war ein freudetrunkener Tag in Berlin - vielleicht auch für Viktor Kortschnoi im Schweizer Exil. Die Mauer fiel und der Anfang vom Ende des Risses durch Europa war vollzogen. Der 58-jährige Schachveteran hatte bei der eben beendeten Mannschaftsweltmeisterschaft in Luzern für den Gastgeber am Spitzenbrett sechs Punkte aus neun Begegnungen geholt und dachte nicht an Ruhestand. Nachdem seit 1984 der Boykott am Schachbrett gegen den einstigen Dissidenten abbröckelte, konnte Perestroika vielleicht mehr bedeuten - nämlich Wiedersehen und Spielen in der alten Heimat.
|
Viktor Kortschnoi: "Der Herr der Bretter"
Der 9. November 2001 war ein kühler, doch sonnendurchfluteter Tag mit viel Heiterkeiten - insbesondere für Viktor Kortschnoi im 37. Stock des Forum Hotels am Berliner Alexanderplatz. Als Gründungsmitglied der Emanuel-Lasker-Gesellschaft nahm er die Jahrestagung zum Anlass, an zwei Tagen Simultan-Vorstellungen zu geben, die das Casino Berlin organisierte. Freitags trat die Schach-Prominenz an, am Samstag bot sich Vereinsspielern "die" Gelegenheit. Trotz der entspannten Wettbewerbsatmosphäre hatten die 50 Teilnehmer nichts zu lachen. Jauch-Millionär Eckhard Freise setzte sich gar zweimal "Viktor dem Schrecklichen" gegenüber - und gewann einmal! Dies blieb jedoch die Ausnahme: 24-1 und 24-2 lauteten die Ergebnisse.
|
Jauch-Millionär Eckhard Freise
Bedenkt man, welch ein enormes Pensum der Wahlschweizer in den vergangenen acht Wochen absolvierte, dann wäre vielleicht eine ökonomische Herangehensweise zu erwarten gewesen - zumal der 70-Jährige jede Partie bis zur Neige auskostet. Fast Nonstop ging es von Buenos Aires über Kreta zu zwei Turnieren in den Niederlanden und zwei Wochen nach dem Berlin-Auftritt steht die FIDE-WM auf dem Programm, in der Kortschnoi in Runde eins auf Lew Psachis treffen wird. Doch der gebürtige St. Petersburger ist und bleibt ein unbändiger Kämpfer. Spannt man den zwanzigjährigen Bogen, so erinnert heute allerdings nichts mehr an die grimmig-barsche Verbissenheit im ideologischen Spannungsfeld - in der jede Partie, jede Analyse gleichbedeutend einer Demonstration der Überlegenheit des jeweiligen Systems kam. Der Duktus der Gegenwart ist liebenswürdig mit einem selten hohen Maß an objektiver Grundhaltung. Selbst nach 50 Jahren Schach auf Topniveau will Kortschnoi noch der letzten Wahrheit einer jeden Stellung hinterherjagen. Rechthaberei als Attitüde hat dabei keinen Platz. Während andere Meister nicht selten zeternd die Gewinnträchtigkeit der eignen Stellung proklamieren, kann der Grandseigneur gelassen einwerfen, wo die andere Seite eine gute Möglichkeit verpasst hat. Und hiervon gab es einige, denn der Simultangeber schreckte nicht vor riskanten Zügen zurück. Warum immer 100 Prozent korrekt agieren, ein Simultan ist schließlich auch ein beiderseitiges Experiment.
Im kurzen Frage-Antwort-Teil zur Begrüßung führte Kortschnoi aus, dass er zeitlebens ungefähr 70 Eröffnungssysteme gespielt hat. Deshalb ist der Fundus an Stellungsmustern schier unerschöpflich, so kann die ganze Bandbreite des königlichen Spiels abgeklopft werden. Er greift aber auch zu Eröffnungsvarianten, die er ansonsten kaum anwendet (z. B. den Vierbauernangriff im Königsinder). Andere Schachgrößen taten das ebenso: Lasker wählte oft das Mittelgambit, welches er in Turnieren nicht wagte, oder Kasparow spielt bisweilen im dritten Zug c3 in sizilianischen Partien. Solches Terrain kann für den Großmeister gelegentlich zum Minenfeld werden. Das musste der stets von seiner Ehefrau Petra begleitete Weltenbummler gegen den seit 20 Jahren nicht mehr im Verein spielenden Klaus Möckel erkennen, der ihm beim Freitagsauftritt die einzige Niederlage zufügte.
|
Petra Kortschnoi ist immer an der Seite des Super-Großmeisters
|
Kortschnoi,V - Moeckel,K [A69]
|
Ansonsten gab es keine Geschenke
- 24 Mal wurde beim Weißspieler der volle Punkt eingetragen. Der eben
von der Jugendweltmeisterschaft zurückgekehrte Attila Figura vom SK
Kreuzberg musste dem Angriffswirbel im Kompensationsgeschäft Dame gegen
drei Figuren Tribut zollen, während Professor Freise damenlos "sauber
abgefieselt" wurde, wie er es unakademisch umschrieb. Kortschnoi hatte gegen
ihn ein einfaches Patentrezept: "Herr Professor, gegen Sie muss ich nur die
Damen tauschen!"
|
Kortschnoi,V - Figura,A [E76]
|
|
Kortschnoi,V - Freise,E [D07]
|
Das gemeinsame Leid des mächtigen
"Kortschnoi-Läufers auf e5" ereilte - einträchtig nebeneinander
sitzend - den Marburger Historiker Ulrich Sieg vom Schachclub Lübeck
(in der 2. Bundesliga Nord im zweiten Team aktiv) und den Berliner Schachverleger
Arno Nickel, einen bekannten Fernschachspieler, der seit Herbst den ICCF-GM-Titel
innehält. In ihrer Ecke tobte sich Kortschnoi taktisch aus. Insbesondere
der Schlussakkord gegen Nickel versetzte die Schar der Staunenden in den
Zustand der Bewunderung. Sieht leicht aus, ereilt einen aber plötzlich.
|
Kortschnoi,V - Sieg,U [B02]
|
|
Viktor Kortschnoi studiert den Angriff auf die Stellung von Ulrich Sieg
|
Kortschnoi,V - Nickel,A [E49]
|
Auch an Tag zwei hätte Kortschnoi
ein 24-1 bilanziert, wenn nicht der 26. Mann, der Mittelalter-Experte Freise
seine zweite Chance wahrgenommen hätte. In der Revanche machte der
Großmeister sicher einen Fehler, denn das Jänisch-Gambit ist die
Passion des Historikers - wie schon Anand bei den Chess Classic Mainz bemerkte.
Auch die Damen blieben diesmal länger im Spiel.
Viktor Kortschnoi
|
Kortschnoi,V - Freise,E [C63]
|
Der Rest der Vereinsspieler konnte
wenig ausrichten. Einzig die junge Janine Platzek und der Senior, Konrad
Durth, erspielten zwei Remis.
|
Kortschnoi,V - Platzek,J [C45]
|
|
Janine Platzek erkämpfte ein sicheres Remis
|
Kortschnoi,V - Durth,K [C42]
|
Und das ist eine wahre Leistung,
denn so mancher Amateur wird überrascht gewesen sein, dass sein Remisangebot
abschlägig beschieden wurde. Ein Kortschnoi hat sich bald in jede Stellung
"eingelebt" - nirgendwo wird der erstbeste Zug pragmatisch hingeworfen. Nein,
lieber verweilt er ein wenig länger am Brett, schließlich soll
eine Partie einen logischen Plan haben. Auch wenn es etwas länger dauert,
den zu finden, wie mehr als viereinhalb Stunden für 25 Bretter
verdeutlichen. Kondition scheint, trotz der 70 Lenze, kein Thema zu sein.
Das Zitat "Schach ist Gymnastik des Gehirns" wird Lenin zugeordnet, aber
im Fall von Kortschnoi ist es zudem ein physischer Gymnastikakt. Mal tief
vorüber gebeugt, den Kopf auf eine Hand gestützt, manchmal den
Daumen am Mund, dann wieder aufrecht stehend im Hohlkreuz, die Hände
über - gelegentlich auch hinter - dem Kopf zusammenführend.
Schließlich folgt nach ein, zwei Minuten ein heiteres Lächeln,
bisweilen ein kesser Spruch und während er schon am nächsten Brett
ist, ein kurzer Blick zurück - einmal auf das Brett und einmal zum
Gegenüber. So dreht er seine Runden und ist selbst nach getaner Arbeit
noch gewillt, einzelne Partien mit den Organisatoren auf wichtige Wendepunkte
durchzuschauen. Kein Spieler, kein Publikum kann mehr erwarten.
|
Entlang der Bretter
Kortschnoi praktiziert im Hintergrund seine
"Gymnastikübungen"
Und auch die Emanuel-Lasker-Gesellschaft wird froh gewesen sein, mit diesem Zugpferd Aufmerksamkeit für ihre Ziele erreicht zu haben. Die Buch-Dokumentation des Lasker-Kongreß vom Januar 2001 ist für Mai 2002 terminiert. Der Sommersitz des zweiten Weltmeisters wird von der Gemeinde Thyrow (südlich von Berlin) erworben und der Gesellschaft im Erbpacht-Vertrag übergeben; ab kommendem Frühjahr sollen Sponsorengelder eingeworben werden. Vielleicht gibt es dort ja am 9. November 2011 ein Simultan mit den Ehrenmitglied - um seine Ausdauer und Spielfreunde wird man nicht fürchten müssen. Und alle Teilnehmer sollten gewarnt sein: Auch ein 80-jähriger Viktor Kortschnoi wird keine unausgekämpften Partien mögen!
|
Paul Wagner, der Vorsitzende der Emanuel-Lasker-Gesellschaft
|
Kortschnoi,V - Deutschmann,M [B38]
|
|
Matthias Deutschmann, der lautlose Brüter
|
Viktor Kortschnoi bereitet den Sieg gegen Dagobert Kohlmeyer vor
|
Kortschnoi,V - Kohlmeyer,D [D85]
|