Lichtenberger Sommer 2004Hauptstadtturnier gedeiht bei Rabiegas Alleingang zwischen Berlin-Brandenburger Lokalkolorit und internationaler FarbeText und Fotos von Harald Fietz, September 2004 |
Beinahe hätte der Titelverteidiger seinen erneuten Turniererfolg verpasst. Robert Rabiega entwickelte sich nach seiner "wilden Zeit" in den 80er und frühen 90er Jahren zum Familienmensch - der neunjährige Sohn Vincent ("eine Sportskanone" - laut Papa) erwartete natürlich am frühen Samstagnachmittag, dass ihm beim Fußballkick sein persönlicher "Bundestrainer" zur Seite steht. Kurz vor Turnierstart um 15 Uhr traf der 33-jährige gebürtige Berliner doch noch ein, nachdem Organisator Wolfgang Hartmann bereits um sein GM-Zugpferd fürchtete. Zum drittem Mal richtete der SC Friesen Lichtenberg im August sein Sommer-Open in den komfortablen Tagungsräumen des BCA-Hotel Wilhelmsburg an der Landsberger Allee aus - mitten in einen typischen Ost-Berliner Plattenbaubezirk, nur einen Steinwurf entfernt vom Kongresszentrum, welches früher das Berliner-Sommer-Open beherbergte, und vom Olympiastützpunkt, wo sich die von Almsicks, Pechsteins u.v.a. auf internationale Sportevents vorbereiten, und wo der Wellblechpalast der Eisbären Berlin gerade sein 50-jähriges Jubiläum feierte.
Eher heiß ging es auf den Brettern der diesmal 171 Teilnehmer zu. Allen voran natürlich bei Rabiega (mit einer Elozahl von 2524 Nummer eins der Setzliste), der sich heuer vor allem der Konkurrenz von GM-Kollegen Kalinitschew (2517), der beiden IMs Jakov Meister (2505) und Drazen Muse (2418) sowie elf FIDE-Meistern gegenübersah. Auf der Rechnung haben musste man die sich schnell entwickelnden Talente Ilja Brener (2375) und Atila Figura (2161). Beide bewältigten morgens Schule und ab 17 Uhr Turnier, was dem deutschen U-14-Meister von 2003 diesmal besser gelang. Gegen Rabiegas Leib- und Magenvariante mit 2.c3 oder 3.c3 im Sizilianer wurde Figura aber bereits nach der ersten Ungenauigkeit bestraft.
Volle Konzentration beim Profi: Vor der Plattenbaukulisse kniet sich Robert Rabiega ebenso wie Ulf von Herman, sein Vereinskamerad von König Tegel, in den Kampf. Von Herman verließ am Ende der Schwung, als er - mit sechs Punkten aus acht Partien - verschlief und Atila Figura den Geldpreis einstrich.
Ein wenig internationales Flair brachte - neben holländischen, französischen, spanischen und russischen Gästen - der Kubaner Alexis Douriet (2277) in die Spitzengruppe. Der 41-Jährige nutzte einen Besuch bei seinem Cousin zur Teilnahme und unterhielt die Schachfreunde mit seinem unternehmungsfreudigen Schachstil. In Runde vier traf er auf den ebenfalls verlustpunktfreien Brener, der in Runde zwei seinen ehemaligen Trainer Kalinitschew siegreich austaktierte. Der meist mit leuchtend-farbigen T-Shirts seiner Baseballvereine von der Karibikinsel gekleidete Douriet sah sich durch den gebürtigen Moskauer, der seit seinem zweiten Lebensjahr in Berlin lebt, mit einer abenteuerlichen Bauernraubvariante konfrontiert.
Ein Kubaner auf Familienbesuch: Alexis Douriet mischte in der Spitzengruppe mit.
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Douriet,A - Brener,I
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Anschließend wurde der angehende FIDE-Meister aus der momentan im Schachaufschwung befindlichen Heimat Capablancas vom Favoriten zu Tisch gebeten. Die Verspeisung der Zentrumsbauern mundete ihm allerdings nicht besonders.
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Rabiega,R - Douriet,A
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Während Rabiega einsam seine Kreise zog und Remis gegen Meister und Schilow (2428) einstreute, nahmen sich die Verfolger mehr oder weniger unglücklich die Punkte ab. Ein Kuriosum erlebte dabei der Kreuzberger Bundesligaspieler Drazan Muse. Die erste Sonntagsrunde, welche anders als wochentags bereits um 15 Uhr angesetzt war, verpasste er kampflos, sah sich aber in Runde vier dem gleichen Gegner gegenüber - und gewann. Eine seltene Konstellation in der Computerauslosung, die jedoch - laut Hauptschiedsrichter Uwe Bade - mit den FIDE-Regeln konform ist. In der Vorschlussrunde ermittelten die beiden russischstämmigen Profis aus Berlin, wer sich Hoffnungen auf den zweiten Geldpreis machen durfte. Mit erstaunlich leichter Hand überrollte Schwarz den Königsflügel in der eigentlich eher als anspruchslos geltenden Rubinsteinvariante der Französischen Verteidigung.
In Duell der Berliner Russen hatte Jakov Meister die bessere Strategie nach der Eröffnung.
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Kalinitschew,S - Meister,J
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Die in Berlin beheimatete gebürtige Russin Julia Belostoskaja hielt immer Anschluss an die Spitzengruppe.
Während sich auf den Spitzenplätzen letztlich die üblichen Verdächtigen der lokalen Szene platzierten, sollen noch zwei Resultate gewürdigt werden. Die gebürtige Russin Julia Belostoskaja (2044) vom SK Zehlendorf erzielte mit sechs Punkten das beste Damenergebnis und einen Zugewinn von 20 Elo-Punkten. Die 26-jährige Gastspielerin beim Frauenbundesligisten SK Großlehna spielte ständig in der erweiterten Spitze mit, ebenso wie Andre Jaeger (2106), der im Vorjahr durch sein gutes Ergebnis für Wirbel sorgte. Mit reichlich Mutmaßungen und pseudointerpretierten Variantenbegründungen schürten einige sich berufen fühlende Titelträger in Print- und Internetmedien Betrugsverdacht. Nach einem Jahr sind die Wogen einigermaßen geglättet, ein IM eines Bundesligsten, der sich nicht in schriftlicher Form, wohl aber in an vielen Orten gepflegten Meinungsaustauschen ähnlich positionierte, äußerte gegenüber Jaeger, dass er aus heutiger Sicht nicht so leichtfertig in ein durch keinerlei harte Fakten gestütztes Urteil einstimmen würde. Jaeger unterlag in der Schlussrunde dem Dähnepokalsieger von 2002, FM Hannes Langrock (2406), und holte diesmal 5,5 Punkte.
Faszination Schlussrunde: Jakov Meister und Drazen Muse kämpften im IM-Duell vor den angespannten Kiebitzen um das zweite Preisgeld. Mit Remis reichte es für den gebürtigen Russen Meister, das Spitzenbrett vom Ausrichter SC Friesen Lichtenberg.
Unter dem Strich gelang es dem Organisationsteam vom SC Friesen Lichtenberg erneut, ein in Berlin in den Sommermonaten von vielen Schachfans gewünschtes Turnier auf die Beine zu stellen. Leicht hätte man über 200 Spieler dabei gehabt, aber die Raumkapazitäten des Hotels gaben für den Zeitraum von neun Tagen nicht mehr her. Die stets topaktuelle Homepage, gepflegt von Peter Weiss, und das umfangreiche Bulletin in Regie von Stefan Keil und Ralf Rennoch (700 Partien können über das Internet geordert werden) vervollständigten einen präzisen Turnierablauf. Vereinsvorsitzender Hartmann kündigte die Neuauflage für 2005 an. Bis dahin muss allerdings überlegt werden, ob man in eine größere Dimension vorstoßen möchte: mehr Preisgeld, Titelträgerkonditionen und größere Räume heißen dabei die wichtigsten Knackpunkte.
1. | Robert Rabiega |
8,0 |
2. | Jakov Meister |
7,5 |
3. | Wladimir Schilow |
7,5 |
4. | Drazen Muse |
7,0 |
5. | Sergei Kalinitschew |
7,0 |
6. | Atila Gajo Figura |
7,0 |
7. | Andreas Stabolewski |
7,0 |
(171 Teilnehmer, 9 Runden) |
Viel Hände - ein schnelles Ende? Die Expertenrunde Berliner Titelträger im angeregten Austausch der Ansichten nach dem letzten Zug beim Lichtenberger Sommer 2004: (von links) Robert Rabiega, Jakov Meister, ein Zuschauer, Drazen Muse und Sergei Kalinitschew.
Wie im Vorjahr konnten sich die nimmermüden Schachrecken bereits eine Stunde nach der Siegerehrung im Schach-Café "En passant" noch einem Blitzabend stellen. Inhaber Sven Horn lud zu 21 Runden in die Schönhauser Allee Nr. 58. Bei diesem Kehraus mit Kultstatus trafen hervorragende Zocker auf gewöhnliche Vereinsspieler - umrahmt vom einem warmen Sommerabend zwischen Kiezflaneuren und langen Listen mit Bierbestellungen. Bei 38 Teilnehmern rechnete der mehrfache deutsche Blitzmeister Rabiega kurz vor Mitternacht mit 20 Punkten vor Drazen Muse (17 Punkte) und Wladimir Schilow (15,5 punktgleich, aber wertungsbesser vor den Bundesligaspielern Jan Wendt und Langrock) einen doppelten Verdienst ab. Ehefrau Monika wird es freuen, denn vor zwei Monaten kam der zweite Sohn Finn als Frühgeburt zur Welt. Wie so oft beflügelte Familienglück auch diesmal die Schachinspiration ...
(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 17 / 2004; S. 465-466)