Außerirdisches für terrestrischen EmpfangAlexei Schirow beamt Computer-Weltmeister Shredder vom Brettvon Harald Fietz, Fotos aus dem Archiv Harald Fietz, September 2001 |
Als sich Robert James Fischer 1972 auf sein WM-Match vorbereitete, gehörte das "rote Buch" mit 400 Partien von Boris Spasski zu seiner wichtigsten Informationsquelle. Die Zeit der Meistersammlungen aus dem Hamburger Wildhagen Verlag sind Vergangenheit. Informatoren und Jahrbücher stellten danach zwei Jahrzehnte die wichtigste Quelle des Schachwissens dar, bevor in den 90er Jahren die Konkurrenz der elektronischen Datenbanken und Analysemaschinen Einzug hielt. Zwar hat das gute alte Buch noch nicht ausgedient, doch die schöne neue Welt der flimmernden Bildschirme rückt für jeden Schachfreund näher. Nicht allein der Heim-PC und das Internet bieten neue Spiel- und Analysemöglichkeiten. Pocket-Fritz setzt auf mobilen, handgerechten Rundumeinsatz, der Fernseher soll künftig eine weitere Abspielstation für Schachprogramme werden.
Digitales TV und Set-Top-Box sind Vokabeln, die auch die Schachszene bald häufiger verwenden wird - und die Lübecker Galaxis AG, der Hauptsponsor des deutschen Mannschaftsmeisters, ist als Decoderspezialist einer der Pioniere dieser Technologie. Die Internationale Funkausstellung (IFA) in Berlin dient alle zwei Jahre als öffentliche Leistungsschau, bei der neue Trends und Entwicklungen auf den Weg zum vernetzten, intelligenten Heim präsentiert werden. Dort bot sich am letzten Freitag im August, der langen Nacht der IFA, die Gelegenheit, den Top-Spieler des Vereins, Alexei Schirow, zu einem der immer noch reizvollen Mensch-gegen-Maschine-Duelle zu bitten. In Kooperation mit dem Hamburger Unternehmen ChessBase wurden die Voraussetzungen geschaffen, um den Rigaer vor einen kleinen Kasten mit der Größe eines Videorecorders zu setzen.
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Geschäftsführer Winfried Klimek, Torben Denker (Marketing),
Alexei Schirow
Den neudeutschen Name "X-treme" trägt das Gerät, welches interaktive Dienstleistungen wie Web-TV, Shopping-Portale, DVD und Java-Applikationen vereint. Die Philosophie dahinter sieht vor, dass der Kunde mit seinem Fernsehgerät zusätzlich alle Anwendungen nutzen kann, die er bei einem Heim-Computer, einem DVD-Player oder einem MP3-Player einzeln abspielt. Mit einer videotext-ähnlichen Oberfläche werden Funktionsbereiche gesteuert, mittels integrierter Festplatte läuft auf der haushaltsüblichen Flimmerkiste jede Schachsoftware - sowohl als Spielprogramm oder Datenverwaltung. Doch noch ist es zu früh, in die Läden zu sprinten. Um den Jahreswechsel soll die Set-Top-Box angeboten werden. Da dieses System alle verfügbaren Free- und Pay-TV-Programme empfangen kann, ist die Hauptzielgruppe nicht der Privatkunde direkt, sondern die Anbieter von Unterhaltungsprogrammen (z. B. Premiere). Vergleichbar dem Handy wird es die Set-Top-Box wohl für einem mehr oder weniger geringen Aufpreis geben, wenn der Käufer sich für einen gewissen Zeitraum zu einem Abonnement verpflichtet. Will man nur die Hardware, so wird beim Direktverkauf ein Preis von knapp unter 2.000 Mark fällig. Dann ist man mit dabei beim digitalen Fernsehen, über das bis zum Jahre 2010 rund 80 Prozent der bundesdeutschen Haushalte verfügen sollen. Vorbei die Zeiten unterschiedlicher Formate wie PAL und Secam. Das Multimedia-Zeitalter beginnt, weil Datenkompression für alle Bits und Bytes Infotainment ins Wohnzimmer schleust. An die Tastatur und die Maus wird man sich dort gewöhnen, und nicht einmal ein Kabel- oder Satellitenanschluss tut Not. Dieses digitale Fernsehen erlaubt den "unabhängigen terrestrischen Empfang", wie es die Marketingleute auf den Punkt bringen.
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Alexei Schirow hochkonzentriert
Auf der Erde bleiben ist selten
die Maxime, wenn Alexei Schirow antritt. Die Lübecker Nummer eins ist
bekannt dafür, dass er auch gegen Computer-Programme seinem Taktik-Stil
treu bleibt. Seit seinem Mini-Match bei den Frankfurt Chess Classic 2000
gegen Fritz on Primergy spielte er keinen Vergleich mehr mit einem
Computer-Programm und Shredder saß er noch nie gegenüber. Doch
solcherlei Überlegungen sind dem Sprössling der lettischen
Tal/Koblenz-Schule ohnehin nicht wichtig - Hauptsache das chaotische Gemengelage
der Figuren lässt sich im Sinne seiner Initiative koordinieren. Mit
intensivster Konzentration, das Diagramm auf dem Flatscreen mit starrem Blick
im Visier, entgehen ihm scheinbar die wummernden Beats der Nachbarstände
und das Stimmengewirr in der Galaxis-Business-Lounge ebenso wie die spontanen
Einwürfe des Moderators André Schulz vom ChessBase-Team. Der
"quält" mit seinem Mikrofon zudem die versammelten Berliner
Schachjournalisten und Bundesligaspieler mit Fragen nach Bewertungen der
Stellung, derweil sich seine Kollegen mit Handheld und Fritz auf der sicheren
Seite wähnen. Wie wird wohl die Zukunft in den Zuschauerreihen aussehen?
Rätselt der Schachfan lieber vergnüglich selbst, lässt er
sich durch Großmeister-Kommentare berieseln oder verschafft er sich
mittels Prozessoren Gewissheit darüber, welche Dramen sich auf den 64
Feldern abspielen?
Dergleichen ficht den Weltranglistenzehnten nicht an. Er begegnet der Hardware - ausgestattet mit einem 766 MHz-Prozessor und 128 RAM Arbeitsspeicher - auf seine Weise. Wie so oft gehört, proklamierte er auch diesmal vor der Begegnung: "Mein Ziel ist es, die Menschheit zu verteidigen." Da stört ihn in der Schnellpartie von 20 Minuten plus zehn Sekunden Bonus pro Zug nicht die Rechenkapazität der künstlichen Intelligenz. "Intuition ist besser als brutal force'. Mir reicht es, drei Positionen pro Sekunden zu kalkulieren." Flott erscheint eine Slawische Partie auf den Übertragungsleinwänden; dann - im 14. Zug - geht Shredder 5.32, der soeben in Maastricht zum Weltmeister unter den Single-Prozessoren gekürt wurde, einen eigenen Weg: Der lässt allerdings die Sicherung des Königsflügels außer Acht. Wo menschliche Übersicht Alarmglocken klingeln gehört hätte, agiert die Technik einseitig am Damenflügel. Schirow braucht man nicht zweimal bitten, schon schlägt ein ungewöhnliches - man möchte fast sagen "außerirdisches" - Läuferopfer auf e4 die Beobachter in Bann.
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Schredder 5.32 - Schirow,A (2706) [D19]
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Freudestrahlend und gut gelaunt
ging es auch für Schirow in die Pause am Büfett. Danach soll der
indische Großmeister Abhijit Kunte aus Pune (etwa 500 Kilometer von
Bombay) an der Reihe sein, der inzwischen nach Anand und Krishnan Sasikiran
die Nummer drei in Indien ist. Spitz und amüsiert glaubte Schirow sich
sogar zu erinnern, dass er nach seiner Wiedergeburt aus einer höheren
Brahmanen-Kaste stammen soll als sein bekannter Widerpart aus dem Teheraner
FIDE-Finale.
Doch wie es so bei transkontinentalen Begegnungen ist, die Technik ist nicht immer der Freund der Veranstalter. Geplant war eine Begegnung auf der neuesten Benutzeroberfläche von Fritz 7, die Ende Oktober in den Handel kommen wird. Dieses Programm stößt mit einigen Features in neue Dimensionen vor: Nicht nur Spiel und Analyse im stillen Kämmerlein sind angesagt, interaktiv werden Möglichkeiten für ICC-ähnliche Spielräume offeriert. Perspektivisch sind auch Unterrichtsforen mit spielstarken Tutoren anvisiert. Jeder kann sich zu jeder Zeit in die Spiel- und Chatrooms zuschalten - Schach wird hier nicht mehr nur gezogen, sondern auch verbal exerziert, Trash Talk nicht ausgeschlossen. Und die ganze virtuelle Schachgemeinde kann dabei sein, so wie die ausgewählten Beta-Tester auf der IFA.
Weil sich neben China Indien in Asien zum Schach-Koloss entwickelt, sitzen auch dort die Elo-bepackten Prüflinge. Einzig eine kleine technische Absicherung ward nicht bedacht. Da ChessBase nach der Einführung von Fritz 7 mit einen Zuspruch von 2000 und mehr gleichzeitigen Online-Nutzern rechnet, wurden als Mindest-Backup zwei Server eingerichtet. Leider "verirrte" sich Großmeister Kunte nach kurzer Anwesenheit auf dem richtigen Server wohl auf den anderen Datentower. Alexei Schirow verkürzte das Warten schon einmal mit einigen Blitzeinlagen à fünf Minuten plus zwei Sekunden. Das zwölfjährige Londoner Talent Murugan WSSThiruchelvam strich mit Weiß gegen Sizilianisch die Segel, und Elisabeth Pähtz bekam mit der gleichen Farbe nonchalant im Franzosen ein Remis angeboten, nachdem Schirow seine gewinnträchtige Stellung nachlässig behandelt hatte. Und schließlich ereignete sich doch noch ein Duell mit dem indischen Sub-Kontinent. Der 20-jährige Sasikiran, mit knapp unter 2600 Wertungspunkten die Nummer zwei hinter Anand, kämpfte zweimal vergeblich mit den schwarzen Steinen. Ein vor Kombinationslust strotzender Weltklassespieler machte stets kurzen Prozess. Dann schloss man zu vorgerückter Stunde das offizielle Programm und gab die Set-Top-Box für die Anwesenden frei. Der Neuköllner IM Rainer Polzin demonstrierte mit zwei Kurzsiegen gegen Pähtz und Thiruchelvam seine auch im Internet erworbene Routine, bevor der Vorstandsvorsitzende der Galaxis AG, Winfried Klimek, der firmeneigenen Übertragungstechnik nicht widerstehen konnte und einen gewissen Matthias herausforderte. Es handelte sich um Wüllenweber, den Mitinhaber von ChessBase, der die Aktivitäten aus Hamburg mitverfolgte. Als sich eine komplexe Stellung anbahnte, genügte ein kurzer Wink des Firmeninhabers zum ersten Diener in seinem Schachstaat, schon fand mit einem Bauernzwischenzug die Klärung der Lage statt. Wie schnell wir anderen Erdbewohner uns an das neue Galaxis-Hilfsmittel gewöhnen werden, wird sich zeigen - nicht immer ist ein "außerirdischer" Großmeister zur Stelle.
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Alexei Shirov - Sashikiran,K [C95]
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Alexei Schirow gegen Krishnan Sasikiran nach
17...Te8
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Shirov,A - Sashikiran,K [B81]
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Thiruchelvam,M - Alexei Shirov [B53]
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Thiruchelvam,M - Shirov,A [B53]
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