Angriff ist gut, Verteidigung ist besserVolker Wildt gewinnt erneut Berliner Politikerturniervon Harald Fietz, Fotos aus dem Archiv Harald Fietz, Dezember 2001 |
Voraussicht, Umsicht und Vorsicht seinen die drei Grundprinzipien der "Moral im Schach" meinte 1779 der Politiker Benjamin Franklin in seinem gleichnamigen Traktat. Sie bilden für ihn, der maßgeblich an der Ausarbeitung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt war, das Spannungsfeld, in dem sich Schachspieler und Politiker gleichermaßen auf ihren jeweiligen Bühnen bewegen. Dem Schachspiel schreibt er die Eigenschaft zu, "very valueable qualities of mind useful in the course of human life" herauszubilden: "We learn by chess the habit of not being discouraged by present bad appearances in the state of our affairs; the habit of hoping for a favourable chance, and that of preserving in the search of resources."
Ob unter diesen Prämissen Schachspieler gute Politiker sind, ist wenig bekannt, ob Politiker gute Schachspieler sind, wird traditionell im Spätherbst beim Berliner Politikerturnier ermittelt. Der Schachverband der Hauptstadt mit seinem Vorsitzenden Alfred Seppelt an der Spitze lädt seit 1979 zu diesem Wettstreit der Köpfe mit gewählten Volksvertretern und Staatsdienern ein. Was vor 22 Jahren lt. Mittelungsblatt des ausrichtenden Verbandes als "kleine Arabeske" mitten im Berliner Wahlkampf mit acht Politikern - darunter auch Richard von Weizsäcker - begann, ist im Jahre 2001 zu einem gutbesuchten Open der Politikprominenz geworden. Zwar konnten nicht alle Eingeladenen den Termin wahrnehmen, doch gab es mit 46 Teilnehmern einen Beteiligungsrekord. Die politische Szene taucht ohnehin zunehmend ins gesellschaftliche Leben der rund um die Uhr geöffneten Spree-Metropole ein - man traf sich auch bei dieser Schachveranstaltung interessenübergreifend und pflegte den Gedankenaustausch abseits des Regierens, Repräsentierens und Verwaltens.
Nach dem 11. September sollte ein Zeichen gesetzt werden: Botschaftsvertreter aus in Konflikte involvierte Staaten mischten sich bereitwillig unter die nationalen und lokalen Politgrößen jeglicher Couleur. Der Gesandte der amerikanischen Botschaft, Brian Flora, sowie der erste Sekretär der afghanischen Botschaft, Abdul-Jabar Jawid, die später jeweils drei Punkte erzielten, waren ebenso präsent, wie der Militär-Attache der albanischen Botschaft, Bequir Skreli (4,5 Punkte), und der makedonische Botschafter, Goran Rafajlovki (5 Punkte). Während der albanische Vertreter seine Frau und Kinder zum Kiebitzen mitbrachte, versetzte der Botschafter seine Bodyguards und die Botschaftssprecherin mit seinem Spieleifer in permanente Bereitschaft - nur zu gerne wurde nach der Schnellpartie noch eine Blitzpartie nachgeschoben.
Für den offiziellen Wettbewerbsteil hatte sich der Ausrichter eine Neuerung einfallen lassen, die nicht überall auf Zustimmung traf. Man unterteilte das Feld in drei Gruppen ("Profis 1" über mit Wertungszahlen über 2000 DWZ oder ELO, "Profis 2" mit Wertungszahlen unter 2000 und "Amateure", die keine Vereinsmitglieder sind). Nur wenn Spieler aus der gleichen Gruppe gegeneinander spielten, hatte jeder 10 Minuten zur Verfügung. Ansonsten gab es gegen P1 und P2 Zeitvorgaben, die zwischen vier und acht Minuten schwankten. Dieser Faktor wurde einigen Gewinnstellungen zum Garaus und frühere Sieger, wie der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel und Thomas Delling, Bürgermeister von Hoyerswerda, äußerten ihren Unmut über "zu extreme" und "unsportliche" Verzerrungen.
Mit Feuereifer waren dennoch alle dabei - auch zwei hochrangige Repräsentanten, die dem Turnier schon lange die Treue halten: Otto Schily und Wolfgang Thierse mussten zwar nach fünf Runden wegen anderer Verpflichtungen aussteigen, aber bis dahin boten sie Schach mit allen Facetten der Passion. Als der Innenminister kurz von 11 Uhr eintraf, war dies das Signal zum Beginn. Ein Politikerturnier ohne den SPD-Politiker ist fast undenkbar. Nicht nur in seiner Funktion als Verantwortlicher für den deutschen Sport repräsentiert Otto Schily das Schach bei vielen Anlässen, auch als Privatperson setzt er sich seit 1987 in Berlin an die 64 Felder. Heuer hatte er zwar nur drei Stunden Zeit, aber solange blieb Brett eins fest in Ministerhand, denn der Start gelang mit 3,5 Punkten aus vier Partien überaus gut.
Oft wird behauptet, dass Verhaltensweisen aus einem professionellen Bereich auf andere Tätigkeiten abfärben. Beim früheren Anwalt und jetzigen obersten Chef der Polizei scheint Voraussicht mit den weißen Steinen regelmäßig Postierung des Läufers auf c4 zu bedeuten. Von dort ist ein klarer Wirkungsbereich definiert - der direkte Zugriff auf der Diagonalen nach e6, f7 oder g8. Ob in offenen Spielen oder im Sizilianer, die Figur von f1 macht zunächst ihren Weg nach c4. Die Beweisführung soll schließlich offensiv vollzogen werden.
In Runde drei kam das "Patent Schily" erneut zur Anwendung. Das Duell mit dem albanischen Gast, der ebenfalls eine Vorliebe für Angriffsschach hat, enthielt besondere Brisanz und hinterher fand ein sichtlich gutgelaunter Sieger eine witzige Analogie: "Hier trafen Militärstrategie auf Polizeistrategie, aber Sie wissen ja, dass das häufig ineinander über geht. Insofern waren wir beide mit den gleichen Mitteln ausgerüstet." Ein genauer Blick offenbart allerdings, dass im 25. Zug unerwartete Wendungen übersehen wurden.
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Herwig Haase, früherer Parlamentspräsident des Berliner Abgeordnetenhauses (li.) gegen Bundesinnenminister Otto Schily
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Schily ,O - Skreli,B [C41]
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Entschlossen legte Schily auch
seine Partie gegen den späteren Sieger an, obwohl sich der Läuferzug
nach c4 diesmal unmittelbar als Tempoverlust herausstellt. Gerade als er
eine ausgeglichene Stellung erreichte, ereilte ihn das leidige Schicksal
des Amateurs - die Unachtsamkeit.
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Schily,O - Wildt,V [B20]
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Ähnlich wie das Brett des
Innenministers blieb der Tisch des Parlamentspräsidenten ein Ort von
besonderem Interesse.
Der Parlamentspräsident des deutschen Bundestages ist rangmäßig der zweite Mann im Staat. Er regelt die Geschäfte des ganzen Hauses, d. h. seine Aufgaben sind entsprechend umfangreich und erfordern größtmögliche Umsicht. Wolfgang Thierse ist für seine konsensbildenden Fähigkeiten bekannt - kaum einer hätte ihn aber als ausgebufften Schachzocker erwartet. Mit einer Mischung aus Bauernschläue und Einbeziehung aller Faktoren der Kampfführung holte er volle Punkte, die die Stellungen nicht unbedingt hergaben. Gegen Michael Martens von Parteivorstand der Bundes-Grünen wurde urplötzlich ein Läufer auf h3 geopfert. Auch wenn die Angelegenheit sich bei exaktem Spiel als nicht stichhaltig erwiesen hätte, eine psychologische Finesse in einer Zehn-Minuten-Schnellpartie ist allemal gut und wer gewinnt, hat schließlich Recht.
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Bundestagsparlaments-Präsident Wolfgang Thierse vor der Schach-Tat
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Martens,M - Thierse,W [C44]
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Ungleich schwieriger gestaltete
sich die Situation gegen Herwig Haase, den früherer
Parlamentspräsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses. Dieser packte
wieder einmal sein originelles 1.f4 aus; parkte aber frühzeitig einen
Mittelbauern ein. Entgegen der Eröffnungsroutine - die Entwicklung
abzuschließen - eroberte Thierse kleinmütig den b2-Bauer, was
Weiß dauerhaft Gegenchancen einräumte. Enger und enger drückten
die weißen Figuren gegen die schwarze Stellung - ab Zug 30 wurden beide
Restbedenkzeiten knapp. Ein erstklassiges Drama völliger
Schachintensität nahm seinen Lauf. Haase suchte aufwendig einen Weg,
mit der plötzlichen Mehrfigur den Coup de Grace zu finden. Thierse
realisierte, dass nur komplizierte - teilweise unsinnig-verwirrende - Züge
helfen konnten: Stein um Stein wurde - nicht immer regelgerecht - abgegeben,
Hauptsache den Gegenüber beschäftigen. Clever wie ein versierter
Clubspieler behielt der höchsten Mann in Parlament umsichtig beide
Flügel und die Uhr im Blickfeld und reklamierte sofort, als die Platte
fiel!
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Haase,H - Thierse,W [A03]
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Trotz dieser Komödie der Irrungen
gaben sich beide Seiten zufrieden mit dem Kampfgeist, weil sich nach solch
einem intellektuellen Gedanken-Ping-Pong für jeden Schachspieler - gleich
ob Gelegenheitsspieler oder regelmäßig Praktizierender -
zunächst ein befriedigendes Gefühl des intensiven Kraftakts einstellt.
Für das Eingreifen um den Titel reichte diese Mischung aus Umsicht und
Glück freilich nicht aus.
Der bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht," meint Shakespeares König Heinrich IV. Ebenso versuchten sich die potentiellen P1-und P2-Kandidaten auf den Gesamtsieg, wacker zu schlagen - auch wenn der bessere Teil in Zeitnotschlachten häufig auf der Strecke blieb. Doch wie nicht anders zu erwarten, findet man auf den ersten fünfzehn Plätzen Spieler, die ihrem Hobby in Verein frönen. Dabei meldeten sich fünf Kommunalpolitiker in der Kategorie über 2000 DWZ - der spätere Zweitplatzierte Guntram Althoff aus dem hessischen Eltville sorgte für etwas Aufregung, da er seine DWZ von 1947 statt seiner Elo-Zahl von 2147 anführte und dadurch als P2 Zeitvorteile erhielt. Aber schließlich ging es um keine Weltmeisterschaft und die Spielstärken zwischen 1900 und 2200 sind ohnehin fließend.
Ein gutes Beispiel hierfür ist Mike Huster, thüringischer Landtagsabgeordnete der PDS, der mit einer DWZ von 1913 beim VfL 1990 Gera in der Thüringen-Liga aktiv ist. Er spielte sich schnell in den Anwärterkreis und hätte gegen den Sieger von 1997 und 1998 in Führung gehen können. Jens Beutel hat in diesen Jahr beim Umzug der Chess Classic von Frankfurt nach Mainz seine Unterstützung für das königliche Spiel unterstrichen. Obwohl die eigene Spielpraxis unter dem zeitlichen Aufwand für das OB-Amt leidet, merkte man, dass der ehemalige Oberliga-Spieler noch die Qualitäten besitzt, gegen zu halten. Nach einem Eröffnungslapsus war das bitter nötig. Huster allerdings schlitterte in Zeitnot, übersah mit einem Impulsivzug, die Kontrolle der Grundlinie zu gewährleisten und fügte sich ein unvermeidliches Dauerschach.
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Der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel
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Huster,M - Beutel,J [D81]
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Thomas Delling zeigte sich auch
in diesem Jahr ambitioniert. Obwohl er in der dritten Runde Volker Wildt
von der Schippe springen ließ, hielt er Anschluss an die Spitze. Die
nachfolgende Partie stellte rückblickend das Spiel um den Bronzerang
dar. Und es kam wie im richtigen Leben: Wer seine Chancen verpasst, wird
dafür bestraft.
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Der Sieger von 1999: Thomas Delling, Bürgermeister von Hoyerswerda
Angesichts der schwankenden Leistungen
seiner Konkurrenten konnte Volker Wildt, der Fraktionssprecher der
Unabhängigen Bürgergemeinschaft aus dem bayerischen Gauting,
ungehindert durchmarschieren. Ihn half nach eigener Aussage das bewährte
Motto, "Durch Aufgabe ist noch nie eine Partie gewonnen worden". Mit Glück
rettete er zwei halbe Punkte in verlorenen Turmendspielen gegen Delling und
Althoff und kritische Phasen, die teilweise aus der krassen Zeitregelung
6:14 Minuten entstanden, konnten ebenfalls überstanden werden. Unter
dem Strich gewann der Spieler, der diesmal die wenigsten Fehler machte und
die besten Nerven hatte. Dennoch schätzt der Sieger seinen zweiten Sieg
in Folge höher ein, weil die Spielstärke in der Spitze deutlich
besser war. Künftig könne er sich allerdings vorstellen, dass die
Vereinsspieler und die Gelegenheitsspieler in zwei Gruppen antreten. Dann
sollte auch die Klassifizierung der Spieler mit DWZ entfallen und die
Bedenkzeiten könnten identisch sein.
Mit dem ungewöhnlichen Zeithandicap erreichten diesmal viele Partien das Niveau von Blitzpartien. Wer angriff, verrannte sich oft im Variantenwust, wer verteidigte, hatte es leichter, Verwirrung zu stiften. Vielleicht würde Benjamin Franklin heute ein psychologisches Prinzip stärker betonen, welches häufig in der Politik und auch auf dem Schachbrett weiterhilft - die Zuversicht in die unmittelbar nächste Aufgabe setzen. Auch wenn es nur jene ist, die kurzfristig von Augenblick zu Augenblick Lösungen bietet.
1. |
Volker Wildt |
Gauting | Gemeinderat | Unabh. Bürgergemeinschaft | 8,0 | 49,0 |
2. |
Guntram Althoff |
Eltville | Stadtrat | Bündnis 90/Grüne | 7,5 | 51,0 |
3. |
Edmund Lomer |
Eckernförde | Ratsherr | CDU | 7,0 | 49,5 |
4. |
Mike Huster |
Gera | Mitglied des Landtags | PDS | 6,5 | 50,5 |
5. |
Thomas Delling |
Hoyerswerda | Bürgermeister | SPD | 6,0 | 54,0 |
6. |
Heinz Lanfermann |
Berlin | Staatssekretär a.D. | FDP | 6,0 | 52,0 |
7. |
Hans-Heinrich Wrede |
Berlin | Auswärtiges Amt, Arbeitsstab Globale Fragen | 6,0 | 48,0 | |
8. |
Wolfram Zabel |
Würzburg | Paneuropa-Union | CDU | 6,0 | 47,0 |
9. |
Heinz-Georg Roth |
Wyk auf Föhr | Bürgermeister | SPD | 6,0 | 43,5 |
10. |
Jens Beutel |
Mainz | Oberbürgermeister | SPD | 5,5 | 54,0 |
11. |
Igor Nemec |
Prag | Stadtrat | 5,5 | 48,0 |