Startseite Rochade Kuppenheim

Weiter in Richtung Unendlichkeit

Mancher Großmeister kämpft noch mit Tücken der neuen Schachvariante Chess960

von FM Hartmut Metz, 30. August 2003

mehr Schachtexte von Hartmut Metz

 

   Die Zahl aller Atome im Universum soll bei etwa 10 hoch 80 liegen. Die so genannte Eddington'sche Zahl ist verschwindend klein im Vergleich zu den unterschiedlichen Möglichkeiten, wie eine Schachpartie bis zum Matt verlaufen kann. Mathematiker taxieren diese Ziffer auf über 10 hoch 100! Schließt man Zugwiederholungen, die die Regeln ja erlauben, aus und nimmt nur "praxisrelevante" Stellungen, sollen es jedoch deutlich weniger sein: 2,074 Septillionen (2,074x10 hoch 45) nennt Christoph Fieberg in einem Beitrag für das Magazin Computer, Schach&Spiele (CSS). Die astronomischen Zahlen lassen sich erahnen, wenn man nur die ersten drei Züge von Weiß und Schwarz aufrechnet: In der Grundstellung verfügen beide Seiten über 20 Möglichkeiten, das Duell zu eröffnen. Macht schon 400 unterschiedliche Partieverläufe nach dem ersten Zugpaar. Nach zwei sollen es bereits 197.000 sein!

   10 hoch 100 ist aber offenbar ein paar Schachstrategen zu wenig. Sie wollen 960 Mal mehr in Richtung Unendlichkeit. Chess960 heißt die Variante, die in Mainz besonders gefördert wird. Dabei beginnen beide Seiten nicht etwa mit der seit weit über einem Jahrtausend bekannten Startformation. Nur die Bauern stehen wie gewohnt auf der zweiten und siebten Reihe. Hinter dem Bauernwall brach jedoch bei den Chess Classic Mainz (CCM) ein Tohuwabohu aus: König, Dame, Türme, Läufer und Springer wurden wild durcheinander gewürfelt. Die Spieler bauten eine spiegelverkehrte Position mit Weiß und Schwarz auf, die von einem Computerprogramm unter 960 Startmöglichkeiten zufällig ermittelt wurde.

   Chess960 nennt CCM-Organisator Hans-Walter Schmitt sein Lieblingskind. Die Kombination aus dem englischen Begriff für Schach samt der Zahl der möglichen Auftaktpositionen klingt weniger sperrig als Fischer Random Chess. So hieß die Abart bis vor kurzem, weil Bobby Fischer das Spiel populär zu machen versuchte. Der legendäre Weltmeister von 1972 wollte damit die Eröffnungstheorie ausschalten, die im Turnierschach ausufert. Selbst durchschnittliche Amateure setzen starken Spielern zu, wenn diese die Nuancen der Caro-Kann- oder der Königsindischen-Verteidigung nicht aus dem Effeff kennen und herunterspulen. Keine vorteilhafte Variante, sondern der bessere Stratege solle gewinnen, lautete dagegen Fischers Credo. Bei 960 unterschiedlichen Startpositionen bleibt die Arbeit fruchtlos, Eröffnungstheorie zu pauken oder zu kreieren.

 

Hans-Walter Schmitt

Hans-Walter Schmitt

 

   "Schach für Wenigzeitinhaber" nennt Schmitt es deshalb. Der Bad Sodener schrieb sich auf die Fahne, beruflich und familiär angespannte 30- bis 60-Jährige, die ihrem Hobby mangels Zeit für exzessives Auswendiglernen bis zur Rente den Rücken kehren, dem Denksport zu erhalten. Wenn direkt vor jeder Runde die Startaufstellung ausgelost wird, geht beim Chess960 jeder unvorbereitet in die Partie. "Das ist Schach pur", schwärmt Konstantin Landa, der im Chess960-Open in Mainz mit 9:2 Punkten Rang drei hinter Levon Aronjan (Armenien/9,5:1,5) und Wadim Swagintsew (Russland/9:2) belegte. Der Großmeister vom Bundesliga-Aufsteiger Bremer SG prophezeite gar nach seinem ersten Chess960-Turnier: "Das ist das Schach der Zukunft."

   Der Weg dahin erweist sich jedoch als steinig. Nur Schmitt organisiert bis dato alljährlich ein hochkarätig besetztes Chess960-Turnier. Um das neue Schach zu forcieren, gründete er während der CCM einen Weltverband, die World New Chess Association (WNCA). Als Präsident fungiert der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel, dem im Chess960-Open gleich zum Auftakt ein Remis gegen den Weltranglistensechsten im normalen Schach, Alexander Grischuk (Russland) gelang. Danach musste der für die Kärrnerarbeit zuständige WNCA-Generalsekretär Schmitt aber mit ansehen, wie sein Präsident im 179-köpfigen Feld nach hinten durchgereicht wurde.

   Zweifellos gilt es noch viel Missionarsarbeit zu leisten. 50 Großmeister pilgerten vor allem wegen des üppigen Preisfonds gen Mainz, der sich zusammen mit dem Ordix Open auf 33.333 Euro belief. Für dieses traditionelle Schachturnier meldeten mit 500 Akteuren fast dreimal so viele Teilnehmer. Schließlich ist Chess960 selbst bei den Protagonisten noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Bei der Chess960-WM mangelte es Peter Swidler an Regelkenntnis. Der russische Weltranglistenachte brütete eine vorteilhafte Variante aus - und verwarf sie wieder, weil er nicht wusste, ob in einem Moment die Rochade erlaubt ist. Titelverteidiger Peter Leko blieb ebenso ratlos. Erst Schiedsrichter Sven Noppes sorgte für Aufklärung. Auch die Herausgeber des täglichen Bulletins in Mainz hatten zunächst vergessen, vor die Chess960-Partien die ausgeloste Startaufstellung zu drucken - die Jahrhunderte zuvor war das ja auch nie wegen der immer gleichen Aufstellung der Schach-Armeen erforderlich ...

   In der nachstehenden vierten Partie zog Titelverteidiger Leko mit 2,5:1,5 in Front. Danach drehte jedoch Swidler das Blatt. Der Baden-Ooser Bundesligaspieler wurde durch seinen 4,5:3,5-Sieg neuer Chess960-Weltmeister und spielt im nächsten Jahr gegen Open-Sieger Aronjan.

 










W: Swidler S: Leko

1.b3 f6 2.e4 d5 3.exd5 Lxd5 4.f3 Sg6 5.c4 Lf7 6.d4 O-O ...

 










W: Swidler S: Leko

... 6.Se2 c6 7.Se3 e5 8.Lxg6 Lxg6 9.d5 b5 10.Lf2 Sb6 11.Sc3 b4 12.Sa4 Sxa4 13.bxa4 a5 15.O-O ...

 










W: Swidler S: Leko

... 15...La7 16.Dc1 Lxe3 17.Lxe3 cxd5 18.cxd5 Txd5 19.Txd5 Dxd5 20.Tf2 Dd7 21.Dc4+ Lf7 22.Db5 Dd1+ 23.Tf1 Dd5 24.Dxd5 Lxd5 25.Tf2 Tb8 26.Td2 Le6 27.Kf2 Kf7 28.Lc5 Tb7 29.Ke3 h5 30.Ld6 Ld7 31.Tc2 Ke6 32.Tc7 Tb6? [ 32...b3 gewinnt sofort: 33.Txb7 ( 33.axb3 Txb3+ 34.Kf2 Kxd6 ) 33...bxa2 und der Bauer marschiert unaufhaltsam zur Dame.] 33.Lc5 b3 34.axb3 Txb3+ 35.Kf2 Tb2+ 36.Kg1 Lxa4 37.Txg7 Lc6 38.Ta7 a4 39.Ta6 Kd5 40.Le7 f5 41.h4 e4 42.fxe4+ fxe4 43.Lg5 Tb8 44.Ta5+ Kc4 45.Ta6 Lb5 46.Ta7 Kb3 47.Lf4 Tb6 48.Le3 Tf6 49.Ld4 Tf5 50.g4 hxg4 51.Kg2 a3 52.Kg3 a2 53.Kxg4 Td5 54.Lf6 e3 55.Te7 e2 56.h5 Td6 57.Lg7 Td7 58.Te3+ Kc2 59.h6 Kd2 60.Ta3 Txg7+! Die letzte Feinheit, um den gegnerischen Freibauern zu entschärfen. 61.hxg7 Lc4 Der weiße g-Bauer ist gestoppt, einer der schwarzen Bauern marschiert dagegen unaufhaltsam zur Dame. 0-1

vorherige Meko Meko-Übersicht nächste Meko