Schachturnier ohne Brett und FigurenAsse erinnern sich an ein paar "Brocken" und können so bis zu 52 Blindpartien gleichzeitig spielen; Anand siegt in Monacovon FM Hartmut Metz, 2. April 2005 |
Mit abwesendem Blick stiert Wassili Iwantschuk Löcher in die Decke. Schachbretter sind für den Europameister entbehrlich. Der Figurenkünstler aus der Ukraine lässt die Springer und Läufer in seinem Kopf tanzen. Beim gestern beendeten Schnellschach-Turnier in Monaco gereichte dies Iwantschuk zum Vorteil. Seit 15 Jahren pflegt der holländische Milliardär Joop van Oosterom die für den Laien beeindruckendste Schach-Variante: das Blindspiel. Dafür benötigen die zwölf Weltklasse-Denkakrobaten weder ein Holzbrett noch Steine. Per Laptop übermitteln sie dem Rivalen ihren Zug und bekommen auf dem Bildschirm mit ansonsten kahlen 63 Feldern nur angezeigt, wohin die letzte gegnerische Figur zog.
Mit dem Blindspiel faszinierten schon im zehnten Jahrhundert die arabischen Meister ihre Herrscher in den prunkvollen Palästen. Die Laien konnten sich kaum vorstellen, wie sich ein einzelner Mensch 32 Figuren einprägen soll, die beinahe wirr über 64 Felder verstreut scheinen. Als der berühmte Pariser Opern-Komponist Philidor, in Personalunion auch größter Schachmeister des 18. Jahrhunderts, mit verbundenen Augen drei Gegner gleichzeitig schlug, nahmen die französischen Aufklärer Diderot und Alambert diese Sensation beeindruckt in ihre "Enzyklopädie" (1757) auf. Die Kunst trieb Harry Pillsbury zur Blüte. Der amerikanische Gedächtnisakrobat gab rund 150 Blindsimultan-Vorstellungen. 1902 in Moskau saß er mit dem Rücken zu 22 Kontrahenten und Brettern und diktierte denen seine Züge. Ohne einen einzigen falschen Zug anzukündigen, setzte er 17 Spieler matt, vier Begegnungen endeten remis, nur ein einziger konnte Pillsbury bezwingen. Nach und nach wurde der Simultan-Weltrekord von Ausnahmekönnern wie Alexander Aljechin weiter gesteigert. Zweifellos die beeindruckendste Vorstellung gab Miguel Najdorf 1947. An 45 Brettern setzte sich der Argentinier 39 Mal durch, remisierte lediglich vier Partien und verlor nur zwei. Die nominelle Höchstleistung kann Janos Flesch mit 52 Duellen für sich in Anspruch nehmen. 1960 gewann der Ungar 31 Partien, remisierte 18 und kassierte drei Niederlagen. Angesichts vieler schnell beendeter Spiele haftet diesem "Weltrekord" ein Makel an.
Bei 52 Partien musste sich Flesch anfangs merken, auf welchen der 3.328 Feldern die 1.664 Figuren stehen. Wahnsinn! Das befanden auch die Sowjets und verboten ihren Weltmeistern und Kronprinzen das Blindspiel. Dies zerstöre das Nervensystem und habe Pillsbury und andere in den Wahnsinn getrieben. Ganz so schädlich scheinen Blindpartien indes nicht zu sein. Die zwölf Teilnehmer des mit 193.250 Euro dotierten Turniers in Monaco erfreuen sich noch alle bester Gesundheit. Und sie produzieren selbst ohne materielle Figuren zuweilen spektakuläre Kombinationen. "Ich bin es gewohnt, viel blind zu analysieren. Ich habe die Stellungen immer deutlich vor meinem geistigen Auge", begründet der Weltranglistensechste Alexander Morosewitsch (Russland). Der Monaco-Sieger von 2002 sieht vor allem einen Unterschied zu den Wettkämpfen mit Figuren und Brettern vor der Nase: "Im Großen und Ganzen erfordert ein Blindduell mehr Energie als eine normale Partie und zwingt einen zu erhöhter Konzentration."
Versierte Akteure merken sich nicht etwa jeden einzelnen Stein. Stattdessen werden so genannte Chunks (Brocken) gebildet. Beispiele sind bestimmte Bauernketten oder eine Rochade-Stellung. Dabei steht der weiße König auf dem Feld g1, der Turm auf f1 und die drei Bauern auf f2, g2, h2. So lässt sich mit dem Begriff "Rochade" schon fast ein Drittel der eigenen oder gegnerischen Figurenknäuel problemlos memorieren. Wissenschaftler gewährten Schachspielern unterschiedlicher Stärke mehrere Sekunden Blicke auf Positionen. Enthielten diese für den Geübten "sinnvolle" Chunks, vermochten die Könner weit häufiger die Stellungen zu rekonstruieren als der Rest. Verstreuten die Wissenschaftler aber bei diesem Experiment die Figuren wahllos auf den Feldern, erinnerten sich die besseren Spieler nicht viel mehr als die schwächeren.
Geübte Schachspieler merken sich beim Blindspiel nicht etwa jede einzelne Figur, sondern "Chunks". Dabei werden typische Stellungsmerkmale wie die umkreisten Rochade-Positionen zu einem "Brocken" zusammengefasst. So sind in dieser Blindpartie zwischen Anand und Schirow zehn der 32 Steine leicht mit dem Begriff "Rochade" zu memorieren.
Letztere verfolgen zu Zehntausenden die Monaco-Partien im Internet mit gewisser Schadenfreude. Auf Grund des Zeitdrucks mit nur 25 Minuten für die Partie (plus 20 Sekunden für jeden ausgeführten Zug) patzen selbst die Großen manchmal in den Blindspielen wie Anfänger und stellen die Dame ein. Einzige Ausnahme: Viswanathan Anand. Der Inder stand bereits vor dem letzten Spieltag als Sieger fest. Im Blindspiel lag er nach fünf Siegen und sechs Unentschieden zwei Zähler vor einer sechsköpfigen Meute mit durchweg sechs Punkten. Im ganz normalen Schnellschach-Wettbewerb gewann der "Tiger von Madras" (7,5:3,5) vor Morosewitsch (7:4), der in der Kombinationswertung mit insgesamt 2,5 Punkten Rückstand den zweiten Platz (13:9) einnahm. Ob mit oder ohne Brett: Im Schnellschach ist Anand eine Klasse für sich.
Viswanathan Anand (links) und Alexander Morosewitsch fabrizierten beim Blindspiel am Laptop eine grandiose Partie. Im Hintergrund Weltmeister Wladimir Kramnik. Foto: Dirk Jan van ten Geuzendam
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Anand,V (2786) - Morosewitsch,A (2741) [C11]
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