Dorfmans Dogma Reloaded Iossif Dorfman: Der kritische Augenblick Rezension von Peter Oppitz, April 2004 Kommentare zur Rezension können im Schach-Forum präsentiert werden |
Game Mind Verlag 2002
ISBN 2-84735-003-9
144 Seiten; ca 20 Euro
Bewertung des Rezensenten:
Bei Kino-Filmen haben wir uns schon lange an Fortsetzungen gewöhnt und gehen erwartungsfroh in Aufgüsse bekannter Titel mit gleichem Personal und Inhalt. Bei Schach-Mittelspiel-Büchern gibt es eine ähnliche Tradition, seit Ahnvater Nimzowitsch in den 20er Jahren seinem grundlegenden Theoriewerk "Mein System" den Partienband "Die Praxis meines Systems" folgen ließ, und auch zu John Watsons Meisterwerk "Secrets of Modern Chess Strategy" von 1998 erschien 2003 das mehr praktisch orientierte "Chess Strategy in Action". Genauso versteht sich "Der kritische Augenblick" von Großmeister Iossif Dorfman ganz klar als fortführendes Partien- und Arbeitsbuch zu seinem Vorgänger "Die Schachmethode".
Großmeister Iossif Dorfman (Jahrgang 1953) stammt aus der Ukraine, hat etwa ELO 2600, arbeitete bei vier Weltmeisterschafts-Kämpfen in Kasparows Sekundanten-Team und lebt seit 1990 in Frankreich. Dort formte er als Lehrer maßgeblich das ehemalige Wunderkind Etienne Bacrot und trainierte auch Weltklasse-GM Wesselin Topalow. In der deutschen Bundesliga trat Dorfman zeitweise im Team des Hamburger SK an und steht in dem Ruf, einer der besten Schach-Trainer der Welt zu sein.
In seinem von der Kritik unterschiedlich aufgenommenen Debüt-Werk "Die Schachmethode" hatte Dorfman auf 40 Theorie-Seiten sein Konzept der kritischen Position und der 4 Elemente der Stellungs-Bewertung dargelegt. Anschließend versuchte er dort, statische und dynamische Fortsetzungen in 94 Partien - alle ausschließlich aus eigener Produktion - nachzuweisen. Das Positive an dem Nachfolge-Band "Der kritische Augenblick" zunächst vorneweg: Zweispaltiges Layout und große Diagramme sind wesentlich professioneller als in der schlampig hergestellten "Schachmethode", grobe Druckfehler und falsche Zugzählungen diesmal nicht zu finden. Der Anteil eigener Partien hält sich bei 31 Stück unter insgesamt 108 Partien und Fragmenten nunmehr im Rahmen, ordentliche Spieler- und Eröffnungs-Verzeichnisse beschließen das Buch, die eingestreuten 6 Beweisfotos von Autor mit den Größen der Schachwelt sind dagegen wiederum mäßig reproduziert.
Die ausgewählten Beispiel-Partien sind einordnet in die drei Kapitel "1. Die statische Stellung des Königs" (d.h. Königsangriffe und -wanderungen), "2. Materialabtausch" (vornehmlich Läufer gegen Springer) und "3. Veränderung der Bauernstruktur" (vorwiegend Zentrums-Vorstöße). Teilweise sind Dorfmans Partie-Kommentare äußerst knapp, variantenarm und strotzen nur so vor verbalen Allgemeinplätzen, so daß der lernbegierige Leser oft mit seinen Fragen allein im Regen stehen gelassen wird und der pädagogische Wert zweifelhaft ist. Ein Beispiel mit sämtlichen Dorfman-Anmerkungen in voller Länge, das ohne jede Kommentar-Zeichen, Alternativ-Züge und Verbesserungs-Vorschläge so auf den Seiten 20 - 22 steht. Wo hat Weiß hier fehlgegriffen, und was konnte besser gemacht werden? Komisch, daß der angebliche Zeitnotfehler exf5 aber der 41.Zug ist ...
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Stefanova,A (2495) - Dorfman,I (2593) [D02]
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Die Kenntnis des ersten Buches
ist unbedingt anzuraten und wird vom Autor quasi vorausgesetzt. In einem
knapp anderthalbseitigen Vorwort faßt "Der kritische Augenblick" nur
kurz die Grundsätze und Terminologie von Dorfmans Theorie aus der
"Schachmethode" zusammen. Grundlage jeder Stellungs-Analyse ist eine Bewertung
mit der von Dorfman festgelegten Skala aus 4 Bilanz-Elementen in absteigender
Reihenfolge:
Statische Königsstellung
Materielles Kräfteverhältnis
Wer hat nach dem Damentausch die bessere Stellung?
Bauernstruktur
Auf diese Skala ist Dorfman sehr
stolz und bezeichnet sie als "Ergebnis meiner Erfahrungen und Forschungen,
die Synthese meiner Karriere als Spieler und Trainer." Diese 4 Bewertungen
werden dann oft in Informator-Symbolen unter den Diagrammen der kritischen
Stellungen angegeben, was allein schon gewöhnungsbedürftig ist.
Auf die Partie-Beispiele angewandt, sieht diese Theorie dann wie im folgenden
Beispiel aus. Dabei habe ich Dorfmans Kommentaren die Ausführungen von
John Nunn aus seinem Eröffnungsbuch "The Complete Najdorf: Modern Lines"
(Batsford 1998) gegenübergestellt.
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Glek,I (2430) - Malisauskas,V (2385) [B93]
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Wie Dorfman im Einzelfall zu seinen konkreten Bewertungen der 4 Elemente kommt, erläutert er kaum und belegt es nicht durch Argumente. Warum die weiße Königsstellung geschwächt (etwa durch das Fehlen des f-Bauern ?!) und weshalb nach 16.Sd5 die weiße Spielanlage auf Dauer hoffnungslos verloren sein soll, ist für mich nicht nachvollziehbar. Und wieso soll Dorfmans einziger nennenswerter Zugvorschlag 17...Kh8 viel dynamischer sein als 17...Kg7 ? Dagegen geht er kommentarlos über die spätere Verbesserungs-Möglichkeit 21...a5 hinweg, die ihm doch ein kurzer Abgleich mit Nachfolger-Partien hätte liefern können.
Der Eindruck ist, das den Praxis-Beispielen hier ein zu starres Theorie-Konzept übergestülpt wird, und was nicht ganz paßt, wird halt passend gemacht. Mit einem ähnlichen Versuch einer Formalisierung des Schachs scheiterte schon Ex-Fernschach-Weltmeister Hans Berliner kläglich in seinem Buch "The System", in dem er computerähnlich Punktwerte verteilte und behauptete, dadurch für jede Position den einzig richtigen Zug zu kennen. Ich bezweifele, daß Dorfman und seine erfolgreichen Schüler in ihren eigenen Partien tatsächlich ihre starken Züge aufgrund des obigen Bewertungs-Schemas finden ...
Die behandelten Mittelspiel-Phänomene sind bei näherer Betrachtung gar nicht so neu, wie Dorfman uns glauben machen will, nur bezeichnen andere Autoren sie mit verständlicheren Begriffen wie etwa "aktive Verteidigung" und "Materialopfer für Initiative". Kaum hat man sich etwas mit seiner Terminologie vertraut gemacht, stößt man dann auf einen K&K-Klassiker mit folgender Interpretation:
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Kortschnoj,V (2670) - Karpov,A (2540) [A47]
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Nanu, was ist denn hier los?? Zunächst wird uns weisgemacht, daß Schwarz die klar bessere statische Bilanz aufweist, weil er eine unerschütterlich feste und solide ausbaubare Stellung besitzt. Und dann greift Weiß lediglich zu dem Bauernopfer g2-g4, und schon soll der Angriff so stark sein, daß die schwarze Position rettungslos verloren ist. Was nützt da nun die vorherige Stellungs-Beurteilung, oder ist sie eher irreführend? Offenbar stimmt doch einiges mit der Logik nicht! In ähnlichem Stil geht Dorfman bei vielen Beispielen in seinem Buch vor. Die Einschätzungen bleiben mysteriös, Wendepunkte des Kampfes unklar, nur der Meister selbst hat angeblich das Wesen der jeweiligen Position durchschaut, ohne daß es ihm allerdings gelingt, dieses Wissen irgendwie nachvollziehbar an den Leser weiterzuvermitteln. Zwar ist das unablässige Eigenlob des ersten Bandes etwas zurückgegangen, doch finden sich immer wieder überhebliche Bemerkungen über "ungenügendes Verständnis der Dynamik" oder "Verfehltheit der ganzen Konzeption", und selbst einen Seitenhieb gegen einen berühmten Trainer-Kollegen kann Dorfman sich nicht verkneifen: "Dworetski im Mittelspiel zu überspielen ist kein großer Verdienst. Seine Hauptqualität ist es, schwierige Stellungen zu retten." Als leicht unseriös empfinde ich sogar die Praxis, nirgendwo Autor und Quelle zu nennen, wenn nachweislich fremde Varianten zitiert oder weiteranalysiert werden. Auch die Einordnung der Beispiel-Partien ist nicht immer ganz stringent. Wo eigentlich überlegene Strategie nachgewiesen werden soll, entscheidet oft nur vordergründige Taktik. Das folgende Beispiel firmiert unter "Bauernvorstoß im Zentrum", wird aber eher durch die Grundlinienschwäche entschieden:
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Polugaevsky,L - Herink,M [E46]
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Natürlich hat Dorfman als starker Großmeister eine interessante Auswahl aktueller und klassischer Partien und Fragmente zusammengestellt und macht darin auch den einen oder anderen beachtlichen Verbesserungs-Vorschlag, doch verabsolutiert er seine Meinung, geht nicht auf Alternativen ein und ignoriert vollständig andere Quellen. Das nennt man dogmatisch! Sorgfältige Trainer wie Mark Dworetski hingegen vergleichen viele vorliegende Analysen, führen sie neu fort und bewerten erst am Ende objektiv die umfassenden Informationen. Wer seine Analysefähigkeiten in komplexen Mittelspiel-Situationen trainieren und verbessern will, dem seien eher die Bücher von Dworetski, Alexander Kotows "Denke wie ein Großmeister" oder "Analyse to Win" von Byron Jacobs empfohlen. Und Spieler ab FIDE-Meister-Stärke, die sich mit den behandelten aktuellen Partien auseinandersetzen wollen, müssen sowieso weitere Quellen heranziehen und finden umfassendere Informationen günstiger in MegaBase, Informator oder ähnlichen Publikationen als im vergleichsweise teuren Buch von Dorfman.
Fazit: "Der kritische Augenblick" versucht, das theoretische Konzept aus "Die Schachmethode" auf klassische und aktuelle Weltklasse-Partien anzuwenden. Die postulierten Kriterien sind zu starr bis teilweise fragwürdig und die Kommentare und Varianten zu spärlich, so daß der Leser allzu oft mit seinen Fragen allein gelassen wird. Brauchbar höchstens für eingeschworene Dorfman-Fans oder als Materialsammlung für Spieler über 2300.
Eine zweite Meinung: Rezension von Harald Fietz.
das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung.