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Die Zahl im Rechnerdisplay hinterfragen

Robin Smith: Moderne Schachanalyse

Rezension von Harald Fietz, Mai 2005

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Robin Smith: Moderne Schachanalyse

Gambit 2005
192 Seiten; 25,95 Euro
ISBN 1-904600-24-7

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5 

 

   Vor zwei Jahrzehnten herrschte ungewisser Aufbruch im privaten Rechnersektor. Die Firma Commodore wollte mit ihrem C64, dem liebvoll "Brotkasten" genannten Heimcomputer und seinem Nachfolger, den sich ausweitenden Markt für das Wohnzimmer im Vertrieb beim Supermarkt-Riesen ALDI erschließen. Beim Intimfeind Atari startete Anfang 1987 die Firma ChessBase die Eroberung des elektronischen Schachbedarfs. Doch wegen des Siegeszugs des Betriebsprogramms Windows änderten sich die Zeiten schnell. C64 und Atari stehen schon lange im Museum, aber mit kommerziellen Schachprogrammen macht ChessBase noch heute Profit. Anno 1994 zitterten bereits die Allerbesten, als Fritz 3 beim Münchener Blitzturnier Kasparow, Anand, Kramnik, Gelfand und Short schlug. Eine Dekade später vergnügen sich Millionen Schachfans mit Fritz, Shredder, Junior und anderen käuflichen Programmen oder kostenloser Software aus dem Internet. Die "Freunde auf den Bildschirmen" sind für viele Schachspieler nicht mehr wegzudenken, gleich ob zum Training, zum Vergnügen oder zur Vor- und Nachbereitung. Da mutet es Wunder an, dass es bislang keine kompakte Einführung in die Methoden dieser speziellen Schachanalyse gab - zumindest keine allgemein-verständliche Lektüre, die nicht von Experten für Experten gedacht und entsprechend in Fachchinesisch verfasst ist.

   Diese Lücke schließt jetzt Robin Smith mit einem 2004 in englischer Sprache erschienenen Band, welcher unter dem Titel "Moderne Schachanalyse. Die technische Revolution in der Schachanalyse" zeitnah Anfang 2005 in deutscher Übersetzung vorliegt. Sicher auch deshalb so zügig, weil die Macher vom Gambit-Verlag witterten, dass die Zielgruppe der Schachcomputerinteressierten ein erhebliches Leserreservoire bildet. Das Erstlingswerk des amerikanischen Fernschach-Großmeisters richtet sich an jene, die mit Funktionen ihres Programms vertraut sind und "Brute Force" für keine allzu gefährliche Angelegenheit erachten. Vor allem diese latent interessierte Klientel erhält zusätzliche Einblicke in Suchmechanismen und Bewertungsschema (inklusive eines informativen Glossars und einer tabellarischen Zeitreise durch die Schachcomputerhistorie).

 

Rund um eine Zahl

   Auf 192 Seiten findet man sich Schritt für Schritt in Denkstrukturen von Rechnern ein. Nach wenigen Seiten zu technischen Aspekten und Programmauswahl beginnt es mit "relativen Stärken von Computern und Menschen". Wohltuend, dass Smith keine Mystifizierung betreibt: "Was Computer gut können, können sie wirklich gut, und worin sie schwach sind, darin sind sie erbärmlich schwach." (S. 13) und "Das positionelle Bewertungssystem aller Computer ist prinzipiell eindimensional. Am Ende, nach Abwägung aller Faktoren, wird in einer einzigen Zahl alles ausgedrückt, was das Programm zu einer Stellung zu sagen hat." (S. 23) lauten zwei Kernaussagen. Und hierzu gibt es Argumente: Welche Gewichtungen von positionellen Faktoren (z.B. Königssicherheit, Bauernstrukturen, vorgerückten Bauern, Freibauern, Zentrumskontrolle, Türmen auf der zweiten oder siebten Reihe oder dem Läuferpaar usw.) bei welchen Programmen wie auftreten (allerdings darf man keine typischen Testberichte zu einzelnen Programmen erwarten!). Das von Menschen gern verwendete Urteil "unklar" existiert in der Rechnerwelt nicht, wenn ein nomineller Wert am Ende im Display die Variante resümiert. Die Beispielauswahl greift auf prägnante Positionen, so dass sich gerade für Spieler, die bislang wenig über die Grundlagen von Computeranalysen reflektierten, zahlreiche Ernüchterungen sammeln: Irgendwelche Bewertungsroutinen stehen fast jedem Programm im Erkenntnisweg (etwa die Überbewertung offener Linien, die Missachtung weitreichender Wirkungen von Qualitätsopfern, die Neigung, Bauern vor dem König laufen zu lassen oder das Schaffen von Angriffmarken durch den Aufzug von Randbauern) - kurzum alles, was den Menschen im Sachen "Intuition" stark macht. Aber natürlich wird nicht nur an den Pranger gestellt: taktische Dominanz in offenen Stellungen, Exaktheit mit reduziertem Material oder das Aufspüren unerwarteter Züge (die berühmten, aus Menschensicht "hässlichen Züge") versetzen oft in Staunen. Keine sensationell neuen Fakten, aber anschaulich in den Kontext gerückt - Warnung und Trost zugleich!

   Ist der Leser nach 40 Seiten mit den grundsätzlichen Vor- und Nachteilen von Rechnervarianten vertraut, so erläutert Smith auf 30 Seiten mit welcher Methode man arbeiten kann: der interaktiven Analyse, bei der das Programm als Sparringspartner dient (Prinzip "Ausspielen von Stellungen"), der reinen Fehlersuche (äußerst wirksam im "Rückwärtsgang", weil das betreffende Programm gerade bei langen Abspielen, [eigene] Versäumnisse "hinten in Varianten" aufspürt), dem Mehrvarianten-Modus, der oftmals bei der Suche nach Kandidatenzügen Hinweise liefert, dem Einsatz von mehreren Engines (ein Lieblingsthema des Autors), was - trotz Verlusten an Rechengeschwindigkeit - regelmäßig Aufschlüsse über völlig andere Bewertungsparameter liefert, dem Engine-Turnier, bei dem Rechner vorrangig Stellungen, in denen grundsätzliche Entscheidungen (z.B. Öffnung oder Schließen des Zentrums) anstehen, im Wettstreit untereinander ausloten, und letztlich der Daueranalyse, die vor allem dann greift, wenn es sich potentiell um "computergerechte" Stellungen handelt (eher taktik-orientiert, Optionen der direkte Attacke gegen den König oder Positionen mit möglichen Übergängen in bestimmte, völlig ausanalysierte Endspieltypen). Damit kann man wirklich jeden Bedarf in den drei Partienphasen befriedigen.

 

Eröffnungssuche

   Ohne Beispiele und mit sechs Seiten ziemlich knapp kommt das Eröffnungsterrain davon. Smith verlegt sich auf Ratschläge: Wie gut sind Statistiken auf der Grundlage von Datenbanken, wie kritisch muss man Kommentierungen hinterfragen (alte, weil fehleranfällig aus dem Vor-Computer-Zeitalter und neue, weil möglicherweise unkritisch unsinnige Computervorschläge einflossen), welche Herangehensweise sollte man beim Aufbau eines Eröffnungsrepertoire wählen (Nutzen automatischer Analyse, Durchforsten von Analysen und Aussortieren überflüssiger Informationen und uninteressanter Varianten) und Einsatz des Programms "Bookup" als Hilfsmittel zur Systematisierung von Variantenübergängen und Zugumstellungen. Smith zieht das unerwartete, aber nicht belegte Fazit zu Eröffnungsvorschlägen der Rechner: "Oft taugen sie nicht allzu viel." (S. 74) Eigentlich verdient dieser Bereich ein eigenes Buch ...

 

Mittelspieldilemma

   Fast 50 Seiten über Mittelspielanalyse lesen (und spielen) sich dagegen packend. Einige Klassiker und aktuelle Begegnungen werden ausführlich unter die Lupe genommen (z.B. Cholmow-Bronstein, Kiew 1964/65 oder drei Partien aus dem Internet-Match des israelischen GM Ilja Smirin gegen verschiedene Programme im Jahre 2002 - hier mit Blick auf Anti-Computer-Strategien). Auch die respektlose Auseinandersetzung mit Garri Kasparows Erträgen aus seiner Buchreihe über die WM-Vorgänger lässt aufmerken, da der Weltranglistenerste eigentlich für seinen effektiven Einsatz mit den Maschinen bekannt ist. Hier ein Auszug aus der Replik.

 










Pillsbury,H - Lasker,E
St. Petersburg, 1895
[Replik auf eine Kasparow-Analyse]

1.exf7+? [1.bxa3 Db6+ 2.Kc2 Tc8+ 3.Kd2 Dxd4+ 4.Ke1 Dc3+? Laut Kasparow führt 5.Td2? zum Remis. Dies ist aber nicht der Fall: 5...fxe6 (5...De3+? 6.Kd1 Lb2 7.Dxf7+ Kh8 8.Lc4 Txc4 9.Df8+ Kh7 10.Df5+= ) 6.De2 Lg5 Nun erwähnt Kasparow ausschließlich den Zug 7.Dxe6+? , und diesen Zug möchten auch manche Programme spielen. Aber er scheint etwas zu gefräßig zu sein, recht typisch für Computerprogramme. Wenn sie Material mehr haben und schlecht entwickelt sind, wollen diese Programme manchmal ... noch mehr Material einsacken. Oft geht das gut, aber hier führt es forciert zum Verlust. 7...Kh8 8.De2 und hier erwähnt Kasparow nur ein sinnloses Schach, nämlich 8...Da1+??= , das auch manche Programme vorschlagen. Solche Züge waren früher eine Schwäche von Programmen und kommen auch heute noch vor. Die meisten Programme finden, wenn man ihnen ein wenig Zeit lässt, jetzt die richtige Idee (8...Dxa3!-+ . Stattdessen wäre eher von einem Menschen zu erwarten, dass er versucht mit 7.g3 oder 7.h4 das weiße Figurenknäuel zu entwirren. Dann ist Schwarz klar im Vorteil, aber Weiß hat zumindest gewisse Überlebenschancen.) ]

 

   Smith isoliert in diesem Kapitel wichtige Prinzipien des computergecheckten Mittelspiels: forcierte Varianten, Vorposten, Angriffsmarken, Freibauern, Opfer auf Position, Gefängnisse (Obacht: Festungen kommen in Endspielen!), Rochadeoptionen, verschiedene Formen von Abtäuschen, Königsjagden usw. Einen besonderen Leckerbissen - mit neuem Terminus - stellt die Betrachtung des "Königsdrifts" dar, d.h. dem allmählichen Verschieben von Figuren und/oder Bauern in Richtung König. Solche "Einsickerstrategien" sind allein die Lektüre wert. Schließlich zieht ein Zehn-Punkte-Katalog mit Thesen zu kritischen Stellungen interessante Schlussfolgerungen für das eigene, künftige Analyseraster (z.B. die philosophisch anmutende Aussage: "Die Computerbewertung sagt 'gleich', der Mensch sagt 'unklar'".)

 

Endspielsackgassen

   Endspiele galten lange Zeit als Achillesferse der Rechner. Hier ist die Entwicklung fortgeschritten - gerade wegen der Tablebases, die - wie Smith ausführlich darlegt - alles bis zum Fünfsteiner absolut exakt berechnen. Problembereiche bleiben Übergänge vom Mittel- ins Endspiel, Schwächen beim Erkennen von Festungen und Dauerschachs und langfristige Endspielbehandlung mit mehr als 25 Zügen. Aber auch Konfusionen bei Rettungsverfahren zum Remis kommen vor, obwohl diese bisweilen notwendig werden, selbst wenn der Rechner sich im Vorteil wähnt. Die Analyse einer Fritz-Variante sei hier beispielhaft präsentiert. Die Stellung resultierte aus einem zuvor zehn Züge langen Abspiel, was in der Partie allerdings nicht auf das Brett kam.

 










(4483) Anand,V - Chess Genius
London, 1994
[Analyse eine Variante mit Fritz]

1.d6!! [Computer finden diesen Zug nicht und zwar nicht weil sie nicht sehen würden, dass er stark ist, sondern weil sie von 1.dxc6? Kc8 abgelenkt werden, fälschlicherweise halten sie das ebenfalls für gewonnen. Fritz sieht Weiß nach 1.dxc6? um fast fünf Bauern im Vorteil, und doch ist die Stellung Remis! Die meisten Programme sehen einen riesigen Bonus für verbundene Freibauern auf der 6. Reihe vor, aber ohne die Hilfe des Königs, der im Quadrat des freien h-Bauern bleiben muss, kommen b- und c-Bauer niemals zur Umwandlung. Wenn aber der weiße König den b- und c-Bauern zu Hilfe eilt, geht der schwarze h-Bauer zur Dame, und es entsteht ein Endspiel "Dame und g-Bauer gegen Dame", das laut Tablebase remis ist. Wie bereits erwähnt, ist es verdächtig, wenn die Bewertung von Fritz lange unverändert bleibt. Bei derart großem Vorteil sollte man annehmen, das die Bewertung mit der Zeit noch zunimmt, bei Festungen bleibt er dagegen unbeweglich, manchmal nimmt er mit der Zeit sogar geringfügig ab. Nach 1.d6!! gewinnt Weiß wie folgt:] 1...Kc8 2.Kf5 h3 3.Ke6 h2 4.d7+ Kb7 5.d8D h1D 6.Dc7+ Ka6 7.b7+-

 

   Diese Art der wortreichen Interpretation kann stellvertretend für die sachlichen Resümees stehen. Die Materialauswahl ist durchweg trefflich und sollte nicht nur für das Eigenstudium der finalen Partiephase geeignet sein, sondern auch für das Zusammenstellen von Trainingsmaterial im Schachunterricht. Ausführliche Highlights sind u.a. das Durchleuchten des Turmendspiels Botwinnik-Flohr, UdSSR-Meisterschaft 1944 (mit ein wenig Kritik am ersten sowjetischen Weltmeister), das Läuferendspiel Topalov-Shirov, Linares 1998 oder das Thema "starker Springer gegen kurzatmiger Läufer" in Torre-Jakobsen, Amsterdam 1973. Wer diese Beispiele aus der gängigen Literatur kennt, wird - wegen der neue Perspektive von hinter den Prozessorkulissen - gleichwohl manchen Aha-Moment erleben!

 

Fazit

   Als kritische Punkt bleibt anzumerken, dass Smith nie anführt, mit welcher Programmversion er seine Beispiele untersuchte bzw. Engine-Turniere ablaufen ließ. Von einen Fernschachspieler, der zweimal die US-Fernschachmeisterschaft errang, hätte man u.U. mehr Tipps zum Nutzen des Computers in diesem Bereich erhofft. Wie eingangs verdeutlicht, ist das Zeitalter der Schachprogramme noch jung, aber inzwischen allgegenwärtig. Das Verdienst der Untersuchung besteht darin, dass Smith mit anschaulichen, präzisen Definitionen eine breite Stärken-Schwäche-Evaluation vornimmt, die ein tieferes Verständnis für Interaktionen Mensch-Maschine fördert. Leider ist eine solche klare Sprache in Technikbereichen nicht alltäglich, und so sollte fast jeder aus dieser detailreichen Studie einen Erkenntnisgewinn ziehen.

 

 

Eine zweite Meinung: Rezension der englischen Ausgabe von Robert Miklos.

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 6/2005, S.167/168
das Buch stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) für die Rezension zur Verfügung


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